Gottesopfer (epub)
Ihnen sprechen muss.«
Doktor Willfurth nickte den beiden Pflegern zu, die sich daraufhin zurückzogen. »Was kann ich für Sie tun, Herr OâConnor?«
»Erst einmal wollte ich mich bei Ihnen bedanken, dass Sie das mit der Beerdigung organisiert haben. Ich habe das alles nicht richtig wahrgenommen letzten Freitag, weil â¦Â« Sam blieb das Wort im Halse stecken, und er schluckte die aufsteigende Traurigkeit herunter.
»Ich weië, erwiderte der Arzt, »das hat Sie alles sehr mitgenommen. Aber Sie sind doch sicher nicht nur hier, um sich zu bedanken?«
»Nein, ich habe eine Frage zu dieser Patientin hier. Können Sie mir sagen, was mit dem Kopf der Frau passiert ist?«
»Sie meinen, woran sie leidet? Nun ja, sie hat schwere Psychosen â¦Â«
»Nein, ich meine die Narben auf dem Kopf«, unterbrach ihn Sam, »woher stammen sie?«
»Warum fragen Sie?«
Sam holte ein Foto aus seiner Tasche und hielt es dem Arzt hin.
»Ich bin einem Mörder auf der Spur, einem Psychopathen, der Frauen umbringt. Bevor er sie tötet, schneidet er ihnen die Haare ab.«
Der Arzt betrachtete stumm das Foto mit Gianna Lorenzos Leiche, sah Sam an und meinte dann: »Kommen Sie, gehen wir in mein Büro.«
Als sie das Büro betraten, forderte der Arzt Sam auf, sich zu setzen, und ging zu einem Aktenschrank. Er holte eine Mappe heraus und legte sie vor sich auf den Tisch.
»Sie wurde ungefähr vor einem Jahr bei uns eingeliefert. Bisherhaben sich keine Verwandten, keine Bekannten, keine Freunde gemeldet. Und das, obwohl damals sogar ihr Bild in der Zeitung veröffentlicht wurde. Ich erinnere mich noch genau an die Nacht, in der sie hierhergebracht wurde. Ich hatte Dienst. Zwei Polizisten hatten sie gefunden, mitten auf der StraÃe. Es hatte geschneit, alles war vereist. Sie irrte da drauÃen in der Kälte herum, nackt und bis auf die Knochen abgemagert.«
Doktor Willfurth öffnete die Mappe und holte ein paar Fotos heraus, die er vor Sam auf den Tisch legte.
Sie zeigten ein hohlwangiges Gesicht, die Augen lagen dunkel und tief in den Höhlen, die Knochen standen unter der dünnen weiÃen Haut hervor, als wollten sie sich hindurchbohren. Auf dem kahlen Schädel sah Sam die rötlichen Striemen.
»Hier, sehen Sie, da waren die Narben noch leicht rötlich. Beinahe verheilt also.«
Sams Gehirn arbeitete plötzlich auf Hochtouren. Beinahe verheilt, das bedeutete, die Frau war damals nicht eben erst von dem Mörder geschoren worden, sondern hatte sich länger in seiner Gefangenschaft befunden â vorausgesetzt natürlich, dass sie überhaupt etwas mit den anderen Fällen zu tun hatte.
»Was meinen Sie, wie alt die Narben damals ungefähr waren?«
»Ein Jahr vielleicht? Aber ich bin kein Dermatologe, so genau kann ich Ihnen das nicht sagen. Doch der Fall wird noch interessanter: Die beiden Polizisten fanden sie mit einer Kette um den Hals und einem Ziegelstein in der Hand.«
»Was für eine Kette war das?«
»Eine Eisenkette. Wir mussten den dicken gusseisernen Ring mit Spezialwerkzeug öffnen lassen.«
»Und woher kam die Frau? Woher stammte der Ziegelstein?« Sams Gedanken überschlugen sich. Eine Eisenkette â das klang ganz nach dem Inquisitor. Sam sah den Arzt aufgeregt an, doch dieser schüttelte bedauernd den Kopf. »Das kann ich Ihnen leider nicht sagen. Das hier ist alles, was wir wissen.« Er schob Sam die Mappe über den Tisch.
Sam überflog den Bericht, den Doktor Willfurth über die Einlieferungder Frau verfasst hatte. Tatsächlich, sehr viel mehr, als er ihm eben erzählt hatte, stand nicht darin, nur dass man die Frau in einer SeitenstraÃe des Mittelwegs gefunden hatte.
»Eines verstehe ich nicht. Sie sagten, die Frau kam vor einem Jahr in die Klinik. Ist ihr Haar seitdem nicht nachgewachsen?«
»Nein, ist es nicht. Sie ist einfach kahl geblieben. Wir verstehen das auch nicht so ganz, vielleicht ist es eine extreme Schockreaktion.«
Sam nickte. Dann fragte er: »Haben Sie die Frau denn nicht gefragt, wo sie gewohnt hat?«
»Seit sie hier eingeliefert wurde, hat sie kein Wort gesprochen.«
»Aber sie redet doch die ganze Zeit.«
»Sie zitiert die Bibel, rauf und runter. Mehr ist aus ihr nicht herauszubekommen.«
Sam atmete tief durch. Die Bibel. Auch das würde passen. Dann sah er sich die anderen Fotos an.
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