Gottesopfer (epub)
sie wohl kennen?«
»Vielleicht von einem Ihrer Gottesdienste?«
»Na ja, ich muss gestehen, sie sieht aus wie jede andere Hausfrau in ihrem Alter und wie viele meiner Gemeindemitglieder. Dickes Gesicht mit Doppelkinn, etwas zu stark geschminkt. Schätze mal, sie ist um die sechzig.«
»Sie haben mir eine exakte Beschreibung des Fotos gegeben. Hausfrau war sie tatsächlich, aber sie war auch â¦Â«, Sam legte eine bewusste Pause ein, »â¦Â ein Medium. Sagt Ihnen das etwas?«
Aus Pater Dominiks Gesicht wich alle Farbe, und er stand plötzlich hektisch auf, um sich seine Soutane anzuziehen, die hinter der Tür an einem Haken hing.
»Tut mir leid, aber ich muss jetzt einen Gottesdienst halten. Wir können uns gerne später weiter unterhalten.«
Sam sah den Pfarrer, ohne etwas zu sagen, an, um ihm erstens zu zeigen, dass er mit der Unterbrechung überhaupt nicht einverstanden war, und um ihm zweitens das Gefühl zu geben, dass er noch lange nicht mit ihm fertig war.
Er folgte ihm die Treppe hinunter. Als sie beide unten angekommen waren, öffnete Pater Dominik die Verbindungstür undgelangte somit direkt in die Kirche, während Sam nach drauÃen ging und die Kirche durch den Haupteingang betrat. Dort setzte er sich links in die hinterste Reihe, auf den gleichen Platz, an dem er auch gestern gesessen hatte.
Pater Dominik lieà den Blick über seine Schäfchen wandern, um wieder einmal festzustellen, dass die Bänke nur spärlich gefüllt waren. Seitlich an der Wand lagen auf einem kleinen Tisch einige Bücher. Er gab einer Frau in der ersten Reihe ein Zeichen, und sie stand auf, um sie an die Gläubigen auf der rechten Seite der Kirche zu verteilen. Pater Dominik selbst ging durch die Reihen auf der linken Seite und verteilte dort die Büchlein. Als er bei Sam ankam, sagte er leise: »Auch für Sie ein Gotteslob .«
Sam öffnete das Buch und sah Notenzeichen und Verse. In diesem Augenblick ging die schwere Portaltür auf, und zusammen mit ein paar Schneeflocken, die auf dem kalten Steinboden sofort schmolzen und zu kleinen Wassertröpfchen wurden, schneite eine junge Frau herein. Sam und Pater Dominik sahen Lina zu, wie sie sich aus ihrem Schal wickelte. Sie strahlte den Pfarrer an und setzte sich direkt neben Sam, dem sofort ein zarter Honigduft in die Nase stieg.
»Schön, Sie zu sehen, Lina«, sagte der Pfarrer und reichte ihr ein Gesangbuch.
»Danke, Pater.« Was für phantastische Augen, dachte Lina und sah dem Pfarrer schmachtend nach. Sie seufzte und sah zu Sam, dem Linas Blick nicht entgangen war und der spöttisch seine rechte Augenbraue hob. Lina tat so, als hätte sie das nicht bemerkt, und sagte kess: »Na? Was verschlägt Sie denn heute hierher? Geben Sie ruhig zu, dass Sie mich wiedersehen wollten.« Sie sah Sam herausfordernd an. »Oder haben Sie plötzlich doch Gefallen an der Kirche gefunden?«
»So in etwa könnte man es sagen«, antwortete Sam ausweichend.
In diesem Moment erhob sich die Gemeinde. Auch Lina stand auf, nur Sam blieb provokativ sitzen. Pater Dominik begrüÃte die Gläubigen und fuhr dann fort: »Gott, wir stehen vor dir, wiewir sind. Bei dir dürfen wir uns geborgen fühlen und müssen uns nicht verstellen. Herr, erbarme dich.«
Die Gläubigen fielen ein: »Herr, erbarme dich.«
Dann sprach wieder der Pfarrer: »Gott, erfülle unsere Herzen mit Licht, erfülle unser Herz mit Liebe. Zeige uns den richtigen Weg, gib uns Kraft zu verstehen, was unsere Feinde treibt, und gib uns Kraft, ihnen zu verzeihen. Herr, erbarme dich.«
Und wieder antwortete die Gemeinde: »Herr, erbarme dich.«
Ob auch Peter Weller und die anderen Angehörigen der Mordopfer so viel Verständnis aufbrachten und dem Mörder verziehen, bezweifelte Sam.
Die nächsten Minuten rauschten an ihm vorbei. Immer wieder stand die Gemeinde auf, sang oder rezitierte etwas. Sam hörte erst wieder zu, als Pater Dominik die Bibel öffnete und sagte: »Ich lese heute aus den Psalmen, Psalm 53, 2 und 4. Es gibt keinen, der Gutes tut.«
»Die Märchenstunde beginnt«, sagte Sam leise, aber offenbar doch laut genug, dass sich eine Frau vor ihm umdrehte und ihn strafend ansah.
Oben auf der Kanzel sprach Pater Dominik mit fester Stimme:
»Menschen, die sich einreden, Gott gibt es überhaupt nicht, leben an der Wirklichkeit vorbei. Der Herr
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