Gottesopfer (epub)
Sie fand ihn ziemlich attraktiv mit seinem gebräunten Gesicht und den dunklen Augen. Wenn er redete und den Kopf drehte, konnte man seine Halsschlagader sehen. Sie hatte eine Schwäche für solche Männerhälse.
Lina lag jetzt wie eine Prinzessin in ihrem Himmelbett und blickte sich noch einmal stolz im Zimmer um. Ihr eigenes Reich. Auf dem Regal standen etwa zehn Bücher. Alle sahen relativ neu aus, denn Lesen war nicht unbedingt ihre groÃe Leidenschaft. Aber eines war auffällig abgegriffen, und der Buchrücken war oben und unten eingerissen. Die Dornenvögel , die Geschichte von Meggie, die sich zu dem attraktiven Pater Ralph hingezogen fühlt, hatte sie an die zwanzig Mal gelesen.
Sie drehte sich zur Seite und betrachtete die Karte in dem Silberrahmen, der auf ihrem Nachttisch stand. Wie jeden Abend seit dreizehn Jahren las sie im Stillen die Worte: » ¡15. años. Feliz cumpleaños, muñeca! Con cada latido de tu corazón estoy contigo. Papa â Alles Gute zum 15. Geburtstag, mein Kleines. Mit jedem Schlag Deines Herzens bin ich bei Dir. Dein Papa«.
»Ich vermisse dich, Papa«, sagte sie leise und dimmte das Licht, denn auch hier zu Hause vermied sie die totale Dunkelheit. Dann schloss sie die Augen und wünschte sich selbst schöne Träume.
1990
Nachdem er die ersten drei Jahre im Kloster mindestens einmal am Tag am Fenster gestanden hatte, in der Hoffnung, der Wagen seines Vaters würde die Auffahrt herauffahren, um ihn abzuholen, war er sich inzwischen sicher, dass man ihn vergessen hatte. Sein kleines Kinderherz hatte aufgehört zu weinen, und er hatte gelernt, zu gehorchen und zu dienen. Vor zwei Jahren hatte er die letzten Hiebe mit dem Rohrstock bekommen, als er zum zehnten Mal versucht hatte abzuhauen. Inzwischen hatte er sich gefügt, besuchte vormittags die Schule direkt neben dem Kloster und feudelte nachmittags die Gänge des Hospizes oder fuhr die Halbtoten, wie er sie nannte, durch den Klostergarten.
Das Franziskanerinnenkloster hatte vor über hundert Jahren über eine eigene Schmiede, eine Bäckerei, eine Mühle, ein Konventsgebäude und diverse Verwaltungshäuser verfügt. Heute war ein GroÃteil der Gebäude verfallen, doch Lukas kannte die Ruinen wie seine Westentasche. Manchmal schlüpfte er nachts aus seinem Zimmer, setzte sich auf die jahrhundertealten Steinmauern und beobachtete den Sternenhimmel. Stundenlang saà er da und wartete auf eine Sternschnuppe. Sein Vater hatte ihm einmal erzählt, dass er sich etwas wünschen könne, wenn er eine Sternschnuppe sah, und dass dieser Wunsch ganz bestimmt in Erfüllung gehen würde. Er wusste nicht mehr, wie oft er sich gewünscht hatte, dass er wieder nach Hause durfte, aber eines wusste er ganz genau: Das mit den Sternschnuppen funktionierte nicht.
Auch heute Nachmittag putzte Lukas im Kloster. Er wischte gerade den Kreuzgang, als ein neuer Halbtoter eintraf, ein alter Priester. Eine Nonne schob den gebeugt in einem Rollstuhl sitzenden alten Mann an ihm vorbei, direkt in den Nordflügel.
Die fünfzehn Schwestern, die das Hospiz leiteten, hatten ihre Zellen im Südflügel hinter dem Arkadengang, in dessen Mitte einkleiner Garten angelegt war, in dem ein plätschernder Brunnen stand. Noch vor hundert Jahren hatte dieser Flügel aus einem einzigen Dormitorium bestanden, einem Schlafsaal, der mit Heu ausgelegt gewesen war. Später hatte man das groÃe Dormitorium durch Vorhänge oder Holzwände in einzelne Bettstellen unterteilt, und heute gab es dort viele kleine Einzelzimmer. Allerdings war gerade mal ein Drittel davon belegt. Im Nordflügel befand sich das Refektorium des Klosters, ein groÃer Speisesaal, wo es meist Suppe und Breispeisen für die zahnlosen Patienten gab. AuÃerdem lagen im Nordflügel ein paar kleine Zimmer, doch nur eines davon war bewohnt: von Lukas. Und dort wurde nun offensichtlich auch der alte Priester einquartiert. Komisch, dachte Lukas, denn normalerweise lagen die Patienten im Hospiz. In diesem Moment rief ihn eine Schwester und trug ihm auf, Bettwäsche zu holen.
Als Lukas mit der weiÃen Baumwollwäsche in der Hand an die Tür klopfte und eintrat, sah ihn der alte Mann an. Er trug eine weiÃe Tunika und darüber einen schwarzen Kapuzenmantel. Das Gesicht hatte nichts Freundliches an sich, die Mundwinkel waren nach unten gezogen, die schmalen, aufgesprungenen Lippen waren fast
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