Gottesopfer (epub)
nicht zu sehen, und die Wangen, fahl und faltig, erinnerten an die hängenden Lefzen einer Bulldogge. Wenn er jetzt noch die schwarze Kapuze aufsetzt, sieht er aus wie der Sensenmann, dachte Lukas.
»Jetzt steh da nicht dumm herum, Junge, gib schon her.« Die Nonne riss ihm die Bettwäsche aus der Hand und machte sich daran, das Bett zu beziehen. »Was ist denn? Los, geh an die Arbeit. Abmarsch.«
Lukas verlieà das Zimmer des Neuankömmlings, ging zurück zu seinem Eimer und dem Feudel, tauchte den Mob in das schmutzige Wasser und wischte weiter von links nach rechts, von rechts nach links. Ein klein wenig freute er sich, dass er nun nicht mehr allein war, sondern einen Nachbarn bekommen hatte.
20
Sam musste in dem riesigen Polizeipräsidium eine ganze Weile nach seinem neuen Büro suchen. Als er es endlich fand, starrte er ungläubig in das kleine Verlies, das man ihm als vorläufiges Büro angeboten hatte. Kaum zu glauben, dass in einem so modernen Neubau überhaupt noch ein solcher Raum existierte, als wäre er seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr renoviert worden. Eine nackte Birne hing von der niedrigen Decke, an den grauen Wänden standen alte Holzregale mit vergilbten Akten und in der Mitte ein runder Holztisch sowie vier Stühle. Die Luft roch verstaubt, sodass Sam die Tür erst gar nicht schloss und zuerst auf das kleine Fenster zusteuerte, um es zu öffnen und so den miefigen Geruch aus seinem neuen Büro zu vertreiben.
»Das ist ja das reinste Luxusbüro. Ein richtiger Hammer. Sind Sie Sam OâConnor?«
Sam drehte sich um und sah in die wachen grauen Augen eines jungen Mannes, den er auf Ende zwanzig schätzte.
»Ja, der bin ich.«
»Ich heiÃe Juri Pompetzki. Ich soll für Sie den Reiseführer spielen.« Er streckte die Hand aus und schüttelte Sams Rechte mit einem kräftigen Händedruck.
»Sind Sie Russe?«
»Mutter aus Sibirien, Vater Deutscher. Und Sie? Sind Sie Amerikaner?«
Sam musste lachen und lieà sich auf einen der unbequemen Stühle fallen, die ihn an alte Schulzeiten erinnerten. Es war das erste Mal, dass er mit einem Halbrussen zusammenarbeitete. »Mutter Deutsche, Vater Amerikaner.«
»Das verspricht doch eine interessante Zusammenarbeit zu werden.« Juri hängte seine braune Lederjacke über eine Stuhllehne, krempelte die Ãrmel seines rot karierten Holzfällerhemds nach oben und entblöÃte dabei seine durchtrainierten Unterarme.Dann zupfte er an seinem schwarzen Schulterhalfter herum, das ihm das Hemd straff nach hinten gezogen hatte und setzte sich ebenfalls.
Sam schob einen kleinen Stapel Akten zu ihm hinüber, klopfte mit der Hand darauf und sagte: »Hier, machen Sie sich gleich mal mit den Fakten vertraut. Ich hole mir einen Kaffee. Wollen Sie auch einen?«
Juri hatte bereits die erste Akte geöffnet und sah sich sichtbar angeekelt die Fotos von der verbrannten Leiche in Hamburg an.
»Möchten Sie auch einen Kaffee?«, fragte Sam noch einmal.
»Nein danke. Trinke nur Kakao.«
Sam musste innerlich über Juris erschrockenes Gesicht lachen. Offensichtlich hatte man ihm einen Milchbubi in einem Rambokörper ins Nest gesetzt.
»Sie sind noch nicht so lange dabei, oder?«, fragte Sam beiläufig im Hinausgehen.
»Seit zwei Jahren, aber das hier ist schon derb.«
Sam nickte wortlos und machte sich auf die Suche nach einem Kaffeeautomaten.
Auf dem Weg zurück in sein Verlies beschloss Sam, seinen neuen Assistenten erst einmal mit reichlich Aktenarbeit zu beschäftigen, damit er ungestört dem Pfarrer der Winterhuder Kirchengemeinde auf den Zahn fühlen konnte.
Am späten Nachmittag traf Sam an der Kirche des Heiligen Erlösers in Winterhude ein. Offenbar war es noch zu früh für den Gottesdienst, denn in der Kirche war kein Mensch zu sehen. Sam beschloss, zum Pfarrhaus zu gehen. Nachdem es in der Nacht getaut hatte, war am Morgen ein eisiger Wind über Hamburg gefegt und hatte die Pfützen in kleine Eisschollen verwandelt. Sam bewegte sich rutschend um die Kirche herum, bis er das Pfarrhaus erreicht hatte. Er drückte auf die kleine Messingklingel und wartete. Dann hörte er, wie über ihm im ersten Stock einFenster geöffnet wurde und eine Männerstimme zu ihm herunterrief: »Was kann ich für Sie tun?«
»Ich würde gerne mit dem Pfarrer sprechen.«
»Bitte wenden Sie sich an das
Weitere Kostenlose Bücher