Gottesopfer (epub)
sich dieses arme, verlorene Wesen gut vorstellen konnte. Ein Bild voller Traurigkeit. Sie hörte Doktor Ritter sagen: »Nicolin, sieh dir das von oben an, wie in einem Film, und erzähl mir, was sich zugetragen hat, bevor du im Meer warst.«
Erst war es still, dann schrie Frau Morgenstern plötzlich auf.
»Sie vergewaltigen mich, spreizen mir die Beine, halten mich fest â¦Â ich habe keine Kraft mehr. Es ist dunkel. Sand und Meer. Es riecht nach Salz.«
»Du musst den Männern verzeihen, damit du deinen Frieden findest.«
»Das kann ich nicht«, sagte Frau Morgenstern weinend.
»Es ist vorbei. Es geht um dich, lass das hinter dir, und verzeih diesen armen Kreaturen.«
Nach einer längeren Pause kam es zögerlich: »Ja, ich verzeihe ihnen.« Frau Morgensterns Gesicht war jetzt wieder entspannt, dann lächelte sie und sagte leise: »Ich fliege. Das Licht â¦Â es ist so schön, so voller Liebe und Frieden.«
Doktor Ritter nickte. Er sah ins Publikum, sah in ungläubige Gesichter, in zufriedene Gesichter und in fragende Gesichter. Dann sagte er: »Die Seele vergisst nichts, deshalb ist es wichtig, dass Sie vor Ihrem Tod für sich selbst Frieden schlieÃen mit anderen. Egal, was sie Ihnen angetan haben. Erst dann findet Ihre Seele den Frieden, die Liebe und das Licht. Sonst wird Ihre Seele immer auf der Suche sein.«
Als Frau Morgenstern aus der Hypnose erwachte, blickte sie sich um und wirkte gelöst. Doktor Ritter fragte sie: »Wie fühlen Sie sich, Frau Morgenstern?«
»Ich fühle mich sehr gut. Danke.«
Und das Publikum klatschte wie nach einem Theaterstück.
1995
Früher hatte er sich, wenn er nachts aufgewacht war, aus dem Zimmer geschlichen und war zu den Ruinen gegangen, um den Sternenhimmel zu betrachten. Später geisterte er nachts durch das Kloster. So entdeckte er eines Nachts hinter einer Tür eine Treppe, die in ein Kellergewölbe führte. Es war riesig, mehrere Gänge öffneten sich sternförmig in unterschiedliche Richtungen, und es gab an die zwanzig verschlossene Holztüren. Offenbar war das gesamte Kloster unterkellert. Manche Gänge waren einfach zugemauert, und Lukas hätte nur zu gerne gewusst, was sich dahinter verbarg, aber da das nicht ging, begnügte er sich mit dem, was er so sah.
Aus der Klostergärtnerei klaute er sich am nächsten Tag festen Draht und bastelte sich eine Art Dietrich. Damit brach er die Schlösser an den Türen auf. Anfangs tat er sich ziemlich schwer, aber in der dritten Nacht hatte er den Dreh raus. Die Türen öffneten sich beinahe wie von selbst, es war ein bisschen wie damals zu Hause, als er am Adventskalender ein Türchen nach dem anderen geöffnet hatte. Und wie damals, wenn manche Türchen bereits leer waren, weil er die Schokolade schon gegessen hatte, herrschte auch hier hinter einigen Türen gähnende Leere. Hinter anderen fand er Gerümpel, alte Stühle und Tische, halb leere Farbeimer, aber auch eine restaurationsbedürftige Madonna, Holzkreuze und geschnitzte Porträtbüsten, die wohl einst das Kloster geschmückt hatten. Hinter einer weiteren Tür fand er eine niedrige Halle voller Bücher. Im vorderen Teil lagen alte Bibeln in einfachen Holzregalen. Es mussten Hunderte sein, schätzte Lukas. Dahinter lagen andere, teils in Leder gebundene Bücher, darunter Messbücher, Heiligenbiografien, BuÃbücher, Lehrbücher und Bücher von Philosophen. Er hatte einen Schatz gefunden. Nacht für Nacht stieg er von nun an in den Keller und las. Später brachte er Pater Paul einige der Bücher mit und las ihm vor.
So auch an diesem Abend. Doch als Lukas sein Buch gerade aufschlagen wollte, rollte der alte Priester in seinem Rollstuhl zu seinem Schrank, holte ein Buch hervor und gab es Lukas.
»Ich habe dir neulich erzählt, dass der Anfang allen Ãbels das Weib ist, erinnerst du dich noch?«
»Ja, Pater Paul, ich erinnere mich noch.«
»Gut. Das Weib ist die Feindin der Freundschaft, sie ist voller Neid und Missgunst. Woraus schuf Gott die Frau?«
»Aus der Rippe Adams.«
»Aus einer gekrümmten Brustrippe entstand sie, und was kann daraus entstehen? Nichts anderes als ein unvollkommenes Tier.«
»Sind Nonnen auch unvollkommene Tiere?«, fragte Lukas.
»Sie bemühen sich, vollkommen zu sein, weil sie sich mit Gott vereint haben und ihm dienen. Aber
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