Gottesopfer (epub)
leiser: »Mit Männern habe ich auch so meine Probleme.«
Doktor Ritter setzte sich auf einen Stuhl neben Frau Morgenstern und sagte: »Ich denke, wir werden die Gründe dafür finden. Legen Sie sich bitte zurück, entspannen Sie sich, und folgen Sie mit Ihren Augen den Bewegungen meiner Hand.«
Im Publikum reckten ein paar die Hälse, um besser sehen zu können, während Doktor Ritter seine Hand vor den Augen der Frau kreisen lieÃ.
Nach etwa dreiÃig Sekunden wurden ihre Augenlider schwer, und der Psychologe tippte ihr mit dem Finger auf die Stirn. Die Frau lag ruhig und entspannt da, ihre Augen waren fest geschlossen.
»Suchen Sie in Ihrem jetzigen oder in einem anderen Leben den Grund für Ihre Angst vor der Einsamkeit. Suchen Sie, und wenn Sie da sind, erzählen Sie mir, wo Sie sind.«
Frau Morgensterns Augenlider flatterten leicht, dann sprach sie mit junger mädchenhafter Stimme: »Ich sitze unter einer Brücke. Ich angle, aber ich habe keine Angel, und es gibt auch nichts zu fischen, weil da kein Wasser ist. Ich bin allein. Ich würde so gerne mit jemandem reden, aber ich bin allein.«
»Wie heiÃen Sie?«
»Nicolin.«
»Wie alt bist du, Nicolin?«
»Fünfzehn.«
»Kannst du sehen, in welcher Stadt du lebst?«
»In Marseille.«
»Nicolin, bist du glücklich?«
»Ja. Ich habe eine Freundin. Sie heiÃt Claudia, aber keiner auÃer mir kann sie sehen.«
»Wo sind deine Eltern?«
»Ich bin wütend auf meine Eltern. Mein Vater säuft die ganze Zeit, und meine Mutter ist eine Nutte. Sie bringt die Männer mit nach Hause. Ich muss zusehen, wie sie ihnen die Schwänze lutscht.«
Ein Raunen ging durch das Publikum bei diesen ordinären Worten, die so gar nicht zu einer gebildeten Ãrztin passten. Doktor Ritter verstand hingegen, dass in diesem Zustand nicht die jetzige Frau Morgenstern, sondern ein fünfzehnjähriges Mädchen aus einer anderen Zeit und einem anderen Bildungsstand sprach.
»Wo ist dein Vater?«
»Er liegt auf dem Boden. Ist ständig besoffen.«
»Kannst du dich beschreiben?«
Frau Morgenstern zögerte. Im Saal war es mucksmäuschenstill. Kein Räuspern, kein Atmen, kein Hüsteln war zu hören.
»O je, ich bin so hässlich. Diese Haare â¦Â es sieht aus, als hätte ich einen Ballen Stroh auf dem Kopf. Ich bin dürr, habe keine Titten und keinen Arsch. Deshalb kriege ich auch keinen Mann ab. Aber das ist nicht so schlimm.«
Doktor Ritter sah ins Publikum. Er erinnerte Lina in diesem Augenblick ein bisschen an einen Zauberer, der immer wieder den Blickkontakt mit den erstaunten Zuschauern sucht. Neben ihr saà eine Frau, die vornübergebeugt und mit halb offenem Mund gebannt das Schauspiel verfolgte. Wenn Lina es nicht besser gewusst hätte, wenn sie nicht schon einige Sitzungen miterlebt hätte, hätte sie vielleicht gedacht, das Ganze sei ein abgekartetes Spiel und Frau Morgensterns Auftritt sei mit Doktor Ritter abgesprochen.
»Die Augen sind das Tor zur Seele, schau deinem Vater in die Augen, kennst du ihn aus deinem jetzigen Leben?«
»Er hat sie ständig zu, weil er pennt, wenn er besoffen ist.«
Ein Lachen löste die spürbare Spannung im Publikum etwas.
»Nein, ich kenne ihn nicht«, sagte Frau Morgenstern dann.
»Und deine Mutter?«
Wieder dauerte es eine Weile, bis die Frau auf der Liege antwortete. »Ja. Sie ist meine Schwester im jetzigen Leben.« Dann fing sie an zu weinen.
»Wie ist das Verhältnis zu deiner Schwester im jetzigen Leben?«
»Nicht gut. Wir haben uns seit Jahren nicht mehr gesehen. Wir haben uns nie gut verstanden.«
»Versuche, deinen Groll und deine Wut aus deinem Herzen zu nehmen. Versuche, deinen Eltern zu verzeihen.«
»Ich bin nicht mehr böse. Auf niemanden.«
»Gut. Dann geh an das Ende dieses Lebens. Was passiert?«
»Ich bin nicht mehr zu Hause, meine Mutter hat mich vor die Tür gesetzt. Ich bin am Meer. Meine Lippen sind ausgetrocknet. Ich bin dürr, ich wollte nichts mehr essen. Es widerte mich an. Ich bin nackt und allein. Niemand ist bei mir. Die Wellen umspülen mich, und meine Haare sind dreckig und voller Sand. Das Meer nimmt mich einfach mit.« Es war, als würde Frau Morgenstern oder besser Nicolin nach Luft schnappen â wie eine Ertrinkende.
Lina traten Tränen in die Augen, weil sie
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