Gottesopfer (epub)
Wenn Sie dazu irgendwelche Fragen haben, scheuen Sie sich nicht, sie zu stellen.«
Er lächelte in die Runde. Da sich niemand meldete, fuhr er fort.
»Die Geschichte der Hypnose ist ein Auf und Ab. In Kriegen wurde sie zum Beispiel bei Amputationen und Operationen eingesetzt, wenn keine Narkosemittel vorhanden waren, und man beobachtete immer wieder eine schnelle Abheilung der Wunden und eine rasche Genesung der Patienten. Erst durch Freud geriet die Hypnose in Vergessenheit â ein groÃer Rückschritt. Freud hatte eine Patientin, die an mehreren Phobien litt. In Trance durchwanderte sie ihre vorherigen Leben, war mal Mann, mal Frau. Freud diagnostizierte eine multiple Persönlichkeitsstörung, und die Frau kam in eine psychiatrische Anstalt. Erst vor etwa fünfzehn Jahren erlebte die Hypnose ein Comeback, und das ist das Verdienst eines hoch angesehenen amerikanischen Psychologen und Mediziners. Doktor Brian Weiss, Chefarzt einer psychiatrischen Abteilung in einer amerikanischen Klinik, hatte mit konventionellen psychotherapeutischen Methoden Hunderte von Menschen behandelt. Doch dann hatte er eine Patientin, bei der sämtliche klassischen Therapien versagten. Doktor Weiss versetzte sie versuchsweise in Hypnose, und sie wurde von ihren Ãngsten geheilt. Nach dieser Behandlung musste Doktor Brian Weiss sein Weltbild komplett ändern. Er hat ein Buch darüber geschrieben. Vielleicht kennt der eine oder andere es.«
Er hielt ein kleines Taschenbuch in die Höhe und reichte es einem Herrn in der ersten Reihe zum Weitergeben. »Es heiÃt Die zahlreichen Leben der Seele .«
Doktor Ritter trank einen Schluck Wasser aus einer kleinen Flasche und stellte sie neben dem Stuhl ab.
»Ich habe in meiner Praxis so einige Ãberraschungen erlebt. Unter anderem habe ich festgestellt, dass jeder Mensch Lasten, Ãngste und Frustrationen aus vergangenen Leben mitnehmen kann, dass Menschen sich wiedersehen, wiederfinden, weil sie etwas nicht gelöst haben. Wir können sie alle wiedertreffen, die Schwester, den Onkel, den Vater, die Stiefmutter oder auch einen Freund. Uns verbindet ein unsichtbares Band mit den Menschen, die wir geliebt, gehasst, betrogen haben, ja sogar mit den Menschen, die durch unsere Schuld gestorben sind. Und glauben Sie mir eines, für alles bezahlen wir. Vielleicht nicht gleich, aber irgendwann in einem späteren Leben.«
Doktor Ritter blickte nachdenklich in die Runde, machte eine längere Pause und sprach dann in sanftem Ton weiter.
»Ich hatte immer Angst vor dem Tod. Heute weià ich, dass wir nur den Körper verlassen, dass der Geist dort hingeht, woher er gekommen ist. Dort, wo Ruhe, Frieden und Liebe herrschen und wo kein dickes Bankkonto, kein Schmuck, keine schicken Kleider, kein groÃes Auto mehr zählen.«
Doktor Ritter gab Lina einen Stapel kleiner weiÃer Zettel, damit sie sie verteilte. »Wer sich heute in Hypnose versetzen lassen will, weil er Angst vor Spinnen, seiner Schwiegermutter, vorm Fliegen oder etwas anderem hat, der schreibt bitte seinen Namen und warum er sich hypnotisieren lassen will, auf einen Zettel und gibt ihn meiner Assistentin. Wir machen eine kurze Pause, und dann sehen wir uns in zehn Minuten wieder.«
Den meisten war es wohl peinlich, sich vor so vielen Leuten hypnotisieren zu lassen, denn nur wenige nahmen einen Zettel entgegen. Lina dachte im Stillen, dass auch sie sich nicht vor Publikum in Hypnose versetzen lassen würde. Man weinte oder schrie vielleicht oder erzählte peinliche Dinge. Nachdem sie die Blätter bis zur letzten Reihe verteilt hatte, ging sie wieder nach vorne, um die ausgefüllten Zettel einzusammeln und sie Doktor Ritter zu geben. Es waren etwa zehn Blätter. Doktor Ritter zogeines heraus und las vor: »Frau Morgenstern.« Er sah fragend ins Publikum, und eine Frau, etwa Mitte vierzig, erhob sich und kam nach vorne. Sie hatte kurze braune Haare, war schlank und trug einen schwarzen Anzug mit einer weiÃen Bluse. Insgesamt eine gepflegte Erscheinung. Doktor Ritter begrüÃte sie, und sie setzte sich auf die Liege.
»Frau Morgenstern, möchten Sie sich uns kurz vorstellen?«
»Ich bin Ãrztin, Dermatologin. Ich bin siebenundvierzig und lebe allein.«
»Was bedrückt Sie?«
»Ich habe Angst vor der Einsamkeit. AuÃerdem kann ich schwer Gefühle zeigen und finde mich selbst nicht sehr liebenswert.« Dann sagte sie etwas
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