Gottesstreiter

beginnen, schade um die Zeit. Sprich mir nach:«
    Im Osten Samael, Gabriel, Vionairaba,
    Im Westen Anael, Burchat, Suceratos,
    Im Norden Aiel, Aniel, Masgabriel,
    Im Süden Charsiel, Uriel, Naromiel   ...
    Die Flammen der Kerzen flackerten. Das rote Wachs spritzte.
     
    Was die Katakomben unter der St.-Matthias-Kirche bargen, wusste niemand, nicht einmal die ältesten und weisesten Einwohner
     von Breslau. Was sich nur ein paar Klafter unter dem Boden des Kirchenschiffes befand, wussten nicht einmal die Ordensherren
     mit Kreuz und rotem Stern, deren Kirche dies war und die tagtäglich über jenen Boden schritten. Um genauer zu sein: Nur zwei
     kannten das Geheimnis. Zwei von den insgesamt sieben Hospitalbrüdern, die dem Mauerläufer dienten und seine Informanten waren.
     Nur diese beiden Eingeweihten kannten den geheimen Zugang und die ihn öffnende magische Losung. Diese beiden, Adepten der
     geheimen Wissenschaften, kannten auch die Arkana. Ihre Aufgabe war es, das
occultum
in Ordnung zu halten und dem Mauerläufer als Akolythen bei Vivisektionen, nekromantischen Experimenten und Dämonenbeschwörungen
     zu dienen.
    Heute assistierte dem Mauerläufer nur einer. Der andere war erkrankt. Oder er täuschte eine Erkrankung vor, um nicht assistieren
     zu müssen.
    Über die Krypta ergoss sich das geisterhafte Licht von einem |441| Dutzend Kerzen und der flackernde infernalische Schein der Kohlen, die auf einem riesigen Dreifuß brannten. Der Mauerläufer
     stand in seinem schwarzen Kapuzengewand an einem mit Büchern bedeckten Pult und blätterte im ›Necronomicon‹ des Abdul Al’hazred.
     Daneben lagen andere, nicht weniger bekannte und mächtige magische Grimuarien: die ›Ars Notoria‹, das ›Lemegeton‹, der ›Arbatel‹,
     der ›Liber Picatrix‹ wie auch der ›Liber Juratus‹ des Honorius von Theben, ein derart berühmtes und gefährliches Buch, dass
     kaum jemand es wagte, die darin enthaltenen Beschwörungen und Formeln zu benutzen.
    Auf einem Granitblock in der Mitte des Raumes, groß und flach wie ein Katafalk, lag ein Skelett. Eigentlich war es kein Skelett,
     sondern nur lose zusammengefügte Knochen: Schädel, Schulterblätter, Rippen, Becken, Schulterknochen, Elle und Speiche, Schenkelknochen,
     Wadenbeine. Das Skelett war nicht vollständig, zahlreiche kleinere Knochen der Füße, Handwurzeln und Finger, einige Hals-
     und Lendenwirbel fehlten, auch das rechte Schlüsselbein war nicht vorhanden. All diese Knochen waren schwarz, einige davon
     stark verkohlt. Der assistierende Akolyth wusste, dass sie von einem Franziskaner stammten, der vor fünf Jahren wegen Häresie
     und Zauberei verbrannt worden war. Der Spitalbruder hatte sie selbst aus der Asche zusammengeklaubt, gesammelt, geordnet und,
     um auch die kleinsten wiederzufinden, die erkaltete Asche des Scheiterhaufens gesiebt.
    Der Mauerläufer trat von seinem Pult zurück und stellte sich an den Marmortisch, über ein entrolltes, sauberes Pergament gebeugt.
     Er zog die Ärmel seines schwarzen Gewandes zurück und hob die Arme. In der rechten Hand hielt er eine kleine Rute aus Eibenholz.
    »Veritas, lux, via«
, begann er ruhig, fast demütig, während er sich über das Pergament beugte,
»et vita omnium creaturarum, vivifica me.
Yecologos, Matharihon, Secromagnol, Secromehal.
Veritas, lux, via, vivifica me.«
    |442| Man hätte schwören können, dass ein Windstoß durch die Krypta fuhr. Die Flammen der Kerzen flackerten, das Feuer auf dem Dreifuß
     flammte gewaltig empor. Die Schatten an den Wänden und im Gewölbe nahmen phantastische Formen an. Der Mauerläufer richtete
     sich auf und breitete mit einer mächtigen Bewegung die Arme aus.
    »Coniuro et confirmo super vos, Belethol et Corphandonos, et vos Heortahonos et Hacaphagon, in nomine Adonaj, Adonaj, Adonaj,
     Eie, Eie, Eie, Ya, Ya, qui apparuisti in monte Sinai, cum glorificatione regis Adonaj, Shadaj, Zebaoth, Anathay, Ya, Ya, Ya,
     Marinata, Abim, Jeia, per nomen stellae, quae est Mars, et per quae est Saturnus, et per quae est Lucifer, et per nomina omnia
     praedicta super vos coniuro, Rubiphaton, Simulaton, Usor, Dilapidator, Dentor, Divorator, Seductor, Seminator, ut pro me labores!«
    Das Feuer flackerte wild auf, die Schatten tanzten. Auf dem bis dahin weißen und reinen Pergament erschienen auf einmal Hieroglyphen,
     Symbole, Siglen und Zeichen, erst sehr schwach, dann immer deutlicher.
    »Helos, Resiphaga, Iozihon«, rezitierte der Mauerläufer, mit der Rute die