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Gottesstreiter

Titel: Gottesstreiter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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sich darauf, das Pentagramm mit einem
     Extrakt aus Enzian und Heliotrop zu besprengen. Auf die glühenden Kohlen warf er ein paar Kiefernnadeln und streute ein Quentchen
     zerriebener Heidelbeerblätter darüber. Mehrmals schnippte er mit den Fingern und pfiff, das eine wie das andere typisch für
     die ältere Magie. Als er jedoch mit der Anrufung begann, bediente er sich eines Verses aus dem ›Hohelied Salomos‹.
    »Pone me ut signaculum super cor tuum, ut signaculum super brachium tuum, quia fortis est ut mors.
Ismai! Ismai! Mutter Sonne, deren Leib weiß ist von der Milch der Sterne!
Elementorum omnium domina
, Herrin der Schöpfung, Nährerin der Welt!
Regina delle streghe!«
    Una cosa voglio vedere,
    Una cosa di amore,
    O vento, o acqua, o fiore!
    Serpe strisciare, rana cantare.
    Ti prego di non mi abbandonare!
    »Sieh nur!«, flüsterte Malevolt. »Sieh nur, Reynevan!«
    In dem dünnen Nebel, der sich über dem Pentagramm erhob, bewegte sich etwas, zitterte und tanzte in einem Mosaik des flackernden
     Widerscheins. Reynevan beugte sich vor und sah genau hin. Einen flüchtigen Moment lang schien ihm, er sähe eine Frau, hoch
     gewachsen, dunkelhaarig, mit Sternenaugen |446| und dem Zeichen des Halbmondes auf der Stirn, in ein mit vielen Mustern versehenes Gewand gekleidet, dessen Farben sich ständig
     veränderten, mal Weiß, mal Kupfer, dann Purpur. Bevor er begriffen hatte, wen er da erblickte, war die Erscheinung verschwunden,
     aber die Anwesenheit der Magna Mater war immer noch deutlich spürbar. Der Nebel über dem Pentagramm verdichtete sich. Dann
     erhellte er sich wieder, und er sah das, was er zu sehen begehrte.
    »Nicoletta!«
    Sie schien ihn hören zu können, denn sie wandte unverhofft den Kopf zu ihm hin. Sie trug eine pelzverbrämte Kappe, ein besticktes
     Wams und einen Wollschal um den Hals. Hinter ihr erblickte er hundert weißstämmige kahle Birken. Und hinter den Birken eine
     Mauer. Ein Gebäude. Eine Burg? Ein Haus? Eine Kirche?
    Dann verschwand alles. Vollständig und unwiderruflich.
    »Ich weiß, wo das ist«, sagte der Mamun, bevor sich Reynevan noch beklagen konnte. »Ich habe den Ort wiedererkannt.«
    »Sag schon!«
    Der Mamun sagte es ihm. Er war noch nicht zu Ende damit, da war Reynevan schon in den Stall gesprungen, um sein Pferd zu satteln.
     
    Die Vision hatte ihn nicht getäuscht. Er sah sie vor dem Hintergrund der weißstämmigen Birken, die umso weißer wirkten, als
     sie einen alten dunklen Eichenhain säumten. Ihre graue Stute ging langsam, sie setzte ihre Hufe vorsichtig in den tiefen Schnee.
     Er gab seinem Pferd die Sporen und ritt näher heran. Die Stute wieherte, sein brauner Hengst antwortete.
    »Nicoletta!«
    »Reinmar!«
    Sie trug Männerkleidung: ein wattiertes, mit Blumenornamenten besticktes Wams mit einem Biberkragen, Reithandschuhe, dicke,
     aus farbiger Wolle gefertigte Beinkleider, so genannte
braccae
, und hohe Stiefel. Die pelzverbrämte Kappe |447| hatte ein Hals und Wangen schützendes seidenes Gebende, den Hals umhüllte zudem ein mehrmals herumgeschlungener Schal, dessen
     Ende nach dem Beispiel der
liripipe
, wie sie die Männer trugen, frei über die Schulter geworfen war.
    »Du hast einen Zauber über mich geworfen, du Magier!«, sagte sie kühl. »Ich habe es gespürt. Eine Macht hat mich gezwungen,
     hierher zu reiten. Ihr konnte ich nicht widerstehen. Du hast gezaubert, gib es zu.«
    »Ich habe gezaubert, Nicoletta.«
    »Ich heiße Jutta. Jutta de Apolda.«
    Er hatte sie anders in Erinnerung. Zwar schien sie unverändert zu sein, ihr Gesicht glich immer noch dem einer Madonna von
     Robert Campin, auch die hohe Stirn, die ebenmäßigen Augenbrauen, die leichte Stupsnase und die Form des Mundes wirkten wie
     früher. Ebenso der Gesichtsausdruck, der täuschend kindlich war. Verändert hatten sich die Augen. Vielleicht hatten sie sich
     aber auch gar nicht verändert, vielleicht war das, was er jetzt darin las, schon immer dort gewesen? Verborgen in der türkisblauen
     Tiefe kühler Besonnenheit, Besonnenheit und ein Rätsel, das es zu lösen, ein Geheimnis, das es zu ergründen galt. Dinge, die
     er bereits gesehen hatte. In den Augen von fast demselben Blau und der gleichen Kühle. In den Augen ihrer Mutter. Der Grünen
     Dame.
    Er ritt noch näher heran. Die Pferde schnaubten. Der Dampf, der aus ihren Nüstern kam, vermischte sich. »Ich freue mich, dass
     du gesund bist, Reinmar.«
    »Ich freue mich, dass du gesund bist, Jutta. Das ist ein

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