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Gottesstreiter

Titel: Gottesstreiter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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fort, noch bevor er etwas erwidern konnte, »auf den Tábor, auf den
     Oreb, auf den Schafberg, den Sion und den Ölberg und habt dort die Bruderschaft der Gotteskinder gegründet, durchtränkt vom
     Heiligen Geist und der Nächstenliebe. Da wart ihr wahrhafte Gottesstreiter, weil eure Seelen und Herzen rein waren, weil ihr
     eifrig Gottes Wort weitergetragen und die Liebe Gottes verkündet habt. Aber das hat nur fünfzehn Wochen gedauert, mein Junge,
     nur fünfzehn Wochen. Schon an St. Abdon und Sennen, am dreißigsten Juli, habt ihr die Menschen aus den Fenstern in die Spieße
     gestürzt, in den Straßen gemordet, in Kirchen und Häusern Gewalt und Massaker ausgeübt. Statt der Liebe Gottes habt ihr begonnen,
     die Apokalypse zu verkünden. Der Name Gottesstreiter steht euch nicht mehr zu. Denn das, was ihr tut, freut eher den Teufel.
     Über Berge aus Leichen gelangt man nicht ins himmlische Königreich. Auf denen schreitet man in die Hölle hinab.«
    »Aber du hast doch gesagt, dass der Utraquismus dir nahe steht«, warf er, sie in ihrem Zorn unterbrechend, ein. »Dass du die
     Notwendigkeit einer Kirchenreform bemerkt hast, dass du dir der Notwendigkeit weit gehender Reformen bewusst bist. Zu der
     Zeit, als Chelčický rief: ›Fünftens: Du sollst nicht töten!‹, war ein Kreuzzug der Papisten gegen Prag gerichtet. Wenn wir
     damals auf Chelčický gehört hätten, der uns befahl, uns ausschließlich durch den Glauben und das Gebet zu verteidigen, wenn
     wir den römischen Horden nur Demut und Nächstenliebe entgegengesetzt hätten, hätten sie uns ermordet. Böhmen wäre im Blut
     geschwommen und Hoffnungen und Träume wie Rauch verweht. Es hätte keine Veränderungen und keine Reformen gegeben. Rom wäre
     in seinem Triumph noch frecher, noch eingebildeter und arroganter, noch verlogener und |627| von Christus noch weiter entfernt gewesen. Es galt, um etwas zu kämpfen, also haben wir gekämpft   ...«
    Die Äbtissin lächelte, und Reynevan errötete. Er konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass dieses Lächeln ein wenig mit
     Spott durchsetzt war. Dass die Äbtissin wusste, wie lächerlich er sich machte, wenn er »wir haben«, »wir sind« und »uns« sagte,
     weil er Ostern 1419 den Zug auf die Berge aus der Ferne, verwirrt, angstvoll und ohne eine Spur von Verständnis, beobachtet
     hatte. Dass er, schockiert durch den Fenstersturz im Juli, vor der entfesselten Revolte in Prag davongelaufen und, zu Tode
     erschrocken durch den Verlauf der Ereignisse, aus Böhmen geflohen war. Dass er selbst jetzt nicht mehr war als ein Neophyt
     und sich auch wie ein solcher aufführte.
    »Im Hinblick auf Veränderungen und Reformen stimmen wir tatsächlich überein«, fuhr die Klarisse lächelnd fort. »Uns unterscheidet
     aber nicht nur die Art, sondern auch der Bereich und der Wirkungskreis. Ihr wollt Veränderungen in der Liturgie und Reformen
     des Klerus auf der Grundlage des Prinzips
sola scriptura.
Wir, und ich habe dir schon gesagt, unser sind viele, wollen viel, viel mehr verändern. Sieh her.«
    An der Wand gegenüber hing als einziger Schmuck des Raumes ein Bild, ein Holzbild, das eine weiße Taube darstellte, die mit
     ausgebreiteten Flügeln in den von oben herabfallenden Lichtstrahl flog. Die Klarisse hob die Hand und sagte etwas in einem
     kaum hörbaren Flüsterton. Plötzlich erfüllte der Duft von Raute und Verbenen die Luft, charakteristisch für die weiße Magie,
     die auch die aradische genannt wurde.
    Der Lichtstrahl auf dem Bild wurde heller, die Taube begann mit den Flügeln zu schlagen, sie flog empor und verschwand im
     Licht. An ihrer Stelle erschien eine Frauengestalt auf dem Bild. Hoch gewachsen, dunkelhaarig, mit Augen wie Sterne, in ein
     Kleid mit vielen Mustern gehüllt, das in vielen Tönen spielte, mal weiß, dann kupferfarben, dann wieder purpur   ...
    »Ein großes Zeichen ist am Himmel erschienen«, begann die Äbtissin mit leiser Stimme die immer deutlicher werdenden |628| Einzelheiten des Bildes zu erklären. »Die Frau, eingehüllt in Sonnenstrahlen, zu ihren Füßen der Mond und auf ihrem Haupt
     ein Kranz aus zwölf Sternen.«
    »Der Prophet sagt, wenn er vom Geist spricht: Wie eine Mutter tröstet, so werde ich euch trösten. Sieh her. Hier ist die Mutter.
Ecce femina! Ecce Columba quae tollit peccata mundi!
Dies ist die Dritte Kirche. Die wahrhaftige und in ihrer Wahrheit die endgültige. Die Kirche des Heiligen Geistes, dessen
     Gesetz die Liebe ist. Und der dauern

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