Gottesstreiter

wird bis ans Ende der Welt.«
    »Da, sieh her: Magna Mater, Panthea – die Allmutter, Regina – die Königin, Genetrix – die Gebärerin, Creatrix – die Schöpferin,
     Victrix – die Triumphatorin, Felicitas – die Glückliche. Die himmlische Jungfrau, virgo caelestis.«
    »Dies ist die Mutter Natur, die Herrscherin der Elemente,
astrorum Domina
, der ewige Anfang aller Dinge. Die größte Göttin, die Königin der Schatten, die Herrin der strahlenden Höhen, des Himmels,
     des lebenspendenden Atems der Meere, der Stille des Unterirdischen. Die, deren einzige Göttlichkeit in vielerlei Gestalt die
     ganze Welt mit unzähligen Namen in den verschiedensten Kulten verehrt.«
    »
Descendet sicut pluvia in vellus.
Sie steigt hernieder wie der Regen auf das Gras, wie ein starker Regen, der die Erde wässert. In ihren Tagen wird Gerechtigkeit
     und großer Frieden aufblühen, solange der Mond nicht verlischt. Und herrschen wird sie von Meer zu Meer, vom Fluss bis an
     den Rand der Welt. Und so wird es sein bis ans Ende der Welt, denn sie ist der Geist.«
    »Verneige dich vor ihr. Nimm ihre Macht an und begreife sie.«
     
    Samson kratzte sich an der Narbe auf seinem rasierten Kopf und lauschte den Erzählungen und der Besorgnis Reynevans – wie
     üblich, ohne einen Kommentar abzugeben, ohne Gefühlsregungen und ohne das geringste Anzeichen von Ungeduld. Reynevan |629| hingegen wurde zusehends klar, dass den Riesen weder die Bewegung zur Errichtung der Dritten Kirche noch der wiederauferstehende
     Kult der Allmutter interessierten. Dass er keinen besonderen Wert auf die Einteilung der Weltgeschichte in drei Epochen legte.
     Dass es ihm im Grunde genommen egal war, ob sich die Äbtissin der Klarissen in Weißkirchen zu den Thesen der Waldenser und
     Chiliasten bekannte und sie mit Leben erfüllte oder sich den Doktrinen der Brüder und Schwestern des Freien Geistes zuwandte.
     Es schien, als gingen Samson die Begarden, Beginen und Guglielmiten herzlich wenig an. Was Joachim von Fiore und Meister Eckart
     anlangte, hatte man den Eindruck, dass beide Samson völlig   ... hmm   ... schnuppe waren.
    »Ich reite fort«, erklärte der Riese unvermittelt, nachdem er sich Reynevans vertrauliche Mitteilungen höflich angehört hatte.
     »Du musst allein mit deinen Problemen fertig werden. Ich reite nach Böhmen. Nach Prag.«
    »Du warst dabei, als ich verwundet worden bin«, fuhr er fort, ohne abzuwarten, bis sich Reynevan von der Überraschung erholte
     und ein Wort herausbringen konnte. »Du hast gesehen, was passiert ist, als die Kugel in meinen Kopf eingedrungen ist. Du bist
     Zeuge gewesen, du hast die Möglichkeit gehabt, es aus der Nähe zu sehen. Ich war auf etwas Ähnliches vorbereitet. Man hat
     mir davon gesprochen, ja sogar   ... mir sogar dazu geraten. Axleben in Prag und Rupilius auf Troský. Sie nannten es: Rückkehr durch Tod. Die einzige Möglichkeit,
     in mein eigenes Universum zurückzukehren und in meine eigene   ... sozusagen körperliche Gestalt, ist, meine gegenwärtige körperliche Gestalt loszuwerden. Kurz gesagt: Das Einfachste wäre
     es, diesen riesigen Körper zu töten. Ihn auszulöschen und alle Lebensprozesse in ihm definitiv zu unterbinden. Seine materielle
     Existenz zu beenden. Mein eigener geistiger Grundstoff würde dann frei werden und könnte dorthin zurückkehren, wohin er zurückkehren
     sollte. Das meinen Axleben und Rupilius. Das, was am achten Mai geschehen ist, scheint zu bestätigen, dass sie Recht haben.«
    |630| »Worin das Problem besteht, kannst du dir denken. Du verstehst wohl, warum mir diese Methode nicht gefällt und warum ich eine
     weniger drastische vorziehen würde. Erstens möchte ich den Tod des Klosteridioten, in dessen Körper ich schon seit drei Jahren
     herumspaziere, nicht auf mein Gewissen laden. Zweitens waren weder Axleben noch Rupilius bereit, zu gewährleisten, dass die
     Sache auch hundertprozentig gelingt. Und drittens, und das ist wahrscheinlich das Wichtigste: Irgendwie habe ich es nicht
     mehr eilig zurückzukehren. Der Grund dafür hat kupferfarbenes Haar und heißt Marketka. Und sie ist in Prag. Deshalb kehre
     ich nach Prag zurück, Freund Reinmar.«
    »Samson   ...«
    »Kein Wort mehr, bitte. Ich gehe allein zurück. Du bleibst hier. Ich wäre dir ein schlechter Freund, wenn ich versuchen würde,
     dich von hier loszueisen, dich von dem zu trennen, was diesen Ort für dich ausmacht. Hier ist deine Ogygia, Reinmar, deine
     Insel der Seligen.