Gottesstreiter
Chiliasten
Recht behalten. Diese Welt hat keine Aussicht, das Ende des zweiten Jahrtausends zu erleben, allen Zeichen zufolge wird ihr
Untergang schon viel eher stattfinden. Sogar bald, würde ich sagen. Steig auf, Tybald, ich habe es mir anders überlegt. Wir
werden uns eine Herberge suchen. Ein Stück weiter weg von hier.«
»Ach Herr«, sagte Tybald Raabe, den Mund voll mit Kraut und Erbsen, »wo soll ich denn solche Informationen hernehmen? Sicher,
das, was ich weiß, kann ich Euch in allen Einzelheiten erzählen. Das von Peterlin von Bielau. Von seinem Bruder Reynevan und
von der Romanze Reynevans mit Adele von Sterz, und was daraus folgte. Was im Raubritternest in Schönau |150| und auf dem Turnier in Münsterberg geschah. Wie Reynevan ... Wie geht es Reynevan eigentlich, Herr? Ist er gesund? Geht es ihm gut? Ihm? Samson? Scharley?«
»Lenk nicht vom Thema ab! Aber, wo du schon mal dabei bist, wer ist er, jener Scharley?«
»Das wisst Ihr nicht? Angeblich ein lasterhafter Mönch oder Priester, der aus dem Klostergefängnis entflohen ist. Sie sagen
auch, etwas genauer hat mir das ein gewisser Tassilo de Tresckow berichtet, dass Scharley am Breslauer Aufstand von 1418 teilgenommen
hat. Wisst Ihr, am achtzehnten Juli, als die aufgebrachten Fleischer und Schuster den Bürgermeister Freiberger und sechs Ratsherren
erschlagen haben. Die Köpfe von dreißig Aufständischen sind danach über den Breslauer Marktplatz gerollt, und dreißig andere
Aufständische hat man mit Verbannung gestraft. Da Scharley seinen Kopf immer noch auf den Schultern trägt, muss er wohl unter
den dreißig Vertriebenen gewesen sein. Ich glaube ...«
»Das genügt. Weitere Informationen. Die, um die ich dich gebeten habe. Über den Überfall auf den Steuereinnehmer und seinen
Zug mit den Steuergeldern. Der Zug, in dem sich auch Reynevan befand. Und in dem du auch warst, Tybald.«
»Schon gut.« Der Goliarde schaufelte mit einem Löffel Erbsen in sich hinein. »Ich weiß, was ich weiß. Und ich sag’s auch,
warum auch nicht. Aber von diesen anderen Dingen ...«
»Von jenen schwarzen Reitern, die
Adsumus
schreien. Und offensichtlich eine arabische Substanz verwenden, die man Hasch’isch nennt.«
»Eben. Davon wusste und weiß ich überhaupt nichts. Wo soll ich denn diese Informationen herkriegen? Woher nehmen?«
»Versuch es doch mal«, die Stimme des Eisenäugigen hatte sich gefährlich verändert, »vielleicht findest du sie ja in der Schüssel
vor deiner Nase, zwischen Erbsen und Speckgrieben. Findest du was, soll es dein Schaden nicht sein. So sparst du Zeit und
Kraft.«
»Ich habe verstanden.«
|151| »Sehr gut. Alle Informationen, Tybald. Alles, was es auch nur gibt. Tatsachen, Geschwätz, Gerüchte, das, was man sich in den
Schenken erzählt, auf den Märkten, Jahrmärkten, in den Klöstern, Feldlagern und Hurenhäusern. Das, was die Pfarrer in ihren
Predigten von sich geben, die Gläubigen bei den Prozessionen, die Ratsherren im Rathaus und die Weiber am Brunnen. Klar?«
»Sonnenklar.«
»Heute ist der Abend vor dem Fest der heiligen Hedwig, der fünfzehnte Oktober, ein Dienstag. In fünf Tagen, am Sonntag, treffen
wir uns in Schweidnitz. Nach der Messe, vor der Pfarrkirche St. Stanislaus und Wenzel. Wenn du mich siehst, komm nicht näher.
Wenn ich weggehe, folgst du mir. Hast du verstanden?«
»Ja, Herr Vlk ... Hmmm ... Verzeiht!«
»Diesmal verzeihe ich dir noch. Das nächste Mal bringe ich dich um.«
Tempora cum causis Latium digesta per annum
lapsaque sub terras ortaque signa canam ...
Die Schüler der Kollegiatschule vom Heiligen Kreuz in Oppeln hatten für heute die ›Fasti‹ des Ovid auf. Von der Mühlgasse
her erschallten die Rufe der Fischer und das Geschrei der Wäscherinnen, die miteinander stritten. Wendel Domarask, der
magister scholarum
, legte die Berichte seiner Agenten in das Geheimfach zurück. Die meisten Berichte klangen äußerst beunruhigend.
Irgendetwas war im Gange.
Dieser Mann mit den eisengrauen Augen, dachte Wendel Domarask, bedeutet Ärger. Ich hab’s ja gleich gewusst, gleich, als ich
ihn sah. Klar, dass der aus irgendeinem Grund hierher geschickt worden ist. Das ist ein Mörder. Ein Attentäter, ein Meuchelmörder.
Den haben sie geschickt, damit er jemanden erledigt. Und danach gibt’s immer eine Menschenjagd, und |152| blinder Terror bricht los. Man kann einfach nicht in Ruhe arbeiten. Zum Auskundschaften braucht man
Weitere Kostenlose Bücher