Gottfried Benn - der Mann ohne Gedächtnis: Eine Biographie (German Edition)
Gedichte jedoch im Band
Fleisch. Gesammelte Lyrik
erhältlich. Bei den Dramen fehlte die noch ungedruckte
Etappe.
Die Novellen
Gehirne, Die Eroberung, Die Reise, Die Insel, Der Geburtstag
vereinte der im Kurt Wolff Verlag erschienene Novellenband
Gehirne
. Darüber hinaus hatte Benn Przygode gegenüber einen weiteren Novellenband für »abgeschlossen und zum Druck bestimmt« erklärt. Der sollte
Diesterweg, Die Phimose (Querschnitt / Erste Fassung)
und eine Novelle mit dem überraschenden Titel
Der Mann ohne Gedächtnis
enthalten.
Wahrscheinlich sollte der Band, dem möglicherweise schon
Der Garten von Arles
und vielleicht auch
Das letzte Ich
angehören sollten, im Kiepenheuer Verlag erscheinen, der erst vor kurzem von Weimar nach Potsdam gezogen war. Gustav Kiepenheuer war es mittlerweile gelungen, fast die ganze Avantgarde revolutionärer Kunst für seinen Verlag zu gewinnen. Er war der Verleger Georg Kaisers und Ernst Tollers, bei ihm erschienen Brechts Erstlinge
Baal
und
Trommeln in der Nacht
, Ludwig Rubiners
Kameraden der Menschheit
sowie Leonhard Franks
Der Mensch ist gut
. In München lernte er Hermann Kasack kennen und überredete ihn, nach Potsdam zu kommen, um für ihn als Lektor zu arbeiten. Benn hatte also Kasack das Manuskript zugesandt, war jedoch damit so unzufrieden, dass er zu der Ansicht gelangt war, »daß das Buch noch nicht fertig ist – lohnt es sich, es weiter zu schreiben? Bitte sagen Sie mir das. « 48 Nur wenige Monate später entschied er: »… die Tatsache, daß ich mich meinen neuen Stilproblemengegenüber so äußerst unsicher fühle, veranlaßt mich, vorläufig nichts davon zu veröffentlichen.« 49
Benns Lage hatte sich grundlegend verändert. Die Neuausrichtung seiner Existenz war bei weitem noch nicht abgeschlossen. Nicht nur, dass sich die neue, demokratisch verfasste Gesellschaft der Weimarer Republik immer deutlicher abzeichnete, der Benns geistiger Aristokratismus mit Zweifeln begegnete; was das verhasste wilhelminische Kaiserreich institutionell vereinte und von seinen Ordinarien und Offizieren repräsentiert wurde – der große Ast, auf dem er seit seinem Studium gesessen hatte –, war vernichtet, und er selbst hat mit allen verfügbaren Kräften mitgeholfen, diesen Ast abzusägen. Aber neben der staatsbürgerlichen schätzte Benn auch seine Rolle als Dichter als äußerst prekär ein:
… ich bin nicht populär und wünsche nicht es zu sein. Ich halte das Publikum für Pöbel und Ruhm für eine Schiebung. Beides steht mir gleich fern … 50
Wir sehen Anfang der zwanziger Jahre einen Spezialarzt für Haut- und Geschlechtskrankheiten mit Privatpraxis, der »an [s]einen gesammelten Werken aus Lyrik, Epik und Kothurn zusammen noch nicht soviel verdient ha[t], wie [er] für Kölnisch Wasser jährlich brauch[t]«, 51 der sonntags in die Rolle eines »Privatdozenten der Philosophie« schlüpft und »die Menschheit einteilt in deskriptiv oder metaphysisch Gerichtete … in jene mit dem Zug zur Singularität und jene mit dem Zug zur Universalität«. 52
Ganz zweifellos handelt es sich bei dem
Mann ohne Gedächtnis
um eine Fassung des Textes, den Kasimir Edschmid noch im selben Jahr als Einzelheft für seine im Erich Reiss Verlag erscheinende Schriftenreihe »Tribüne der Kunst und Zeit« 53 annahm und drucken ließ. Es ist Benns erste Nachkriegsarbeit, die »Antrittsvorlesung eines großen Essayisten«. 54 Sie erschien unterdem Titel
Das moderne Ich
und ist eine fiktionale Vorlesung vor angehenden Medizinstudenten.
Die Antwort auf die Frage, warum die Arbeit zunächst den zweideutigen Titel
Der Mann ohne Gedächtnis
trug, erschließt die Lektüre dieses Essays nachhaltig, wird doch anfangs der Vorwurf der kulturellen Gedächtnislosigkeit an das »soziale Ich« gerichtet, den »Mittelmensch, das kleine Format, das Stehaufmännchen des Behagens, den Barrabasschreier, der bon und propre leben will«. 55 »Es wird so viel zerstört, lese ich in Ihren Augen, wir wollen nur arbeiten und vergessen, was mit Deutschland geschah.« 56 Doch dies sei ein Irrweg, eine Sackgasse, denn die geschichtliche Lage habe sich grundlegend gewandelt, und dieser Wandel habe sich seit langem angekündigt.
Der zweite Tag Europas ist vergangen, war Glaube Schuld, wurde Erfahrung Zufall, es ist die Nachtwache zum dritten Tag. … Sie dürfen sich erschaffen, Sie sind frei. 57
Eindrucksvoll ist vor allem die Liste der Bücher und ihrer Verfasser (Aristoteles, Augustin, Marc Aurel,
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