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Gottfried Benn - der Mann ohne Gedächtnis: Eine Biographie (German Edition)

Gottfried Benn - der Mann ohne Gedächtnis: Eine Biographie (German Edition)

Titel: Gottfried Benn - der Mann ohne Gedächtnis: Eine Biographie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Holger Hof
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Bergson, Jacob Burckhardt, Descartes, Anatole France, Flaubert, Heraklit, Oscar Hertwig, Kant, John Locke, Malebranche, Ovid, Plutarch, Platon, Erwin Rohde, Schopenhauer, Hippolyte Taine, Thukydides, um nur einige zu nennen), die Benn namentlich (aber auch versteckt) herbeizitiert, um historisch, biologisch und mythologisch den Übergang vom naturwissenschaftlich fundierten Weltbild bei gleichzeitigem imperialen Machtanspruch (also der Vorkriegszeit) zu einem ästhetischen Weltbild zu markieren. Dieser könne erst dann vollzogen werden, wenn der »Künstler« einerseits apollinisch von diesem Wissen und andererseits von dionysischer »Gedächtnislosigkeit« durchdrungen sei. Dann erst wäre auch die ästhetische Existenz legitimiert, die Benn so beschreibt:
     
Mich sensationiert eben das Wort ohne jede Rücksicht auf seinen beschreibenden Charakter rein als assoziatives Motiv und dann empfinde ich ganz gegenständlich seine Eigenschaft des logischen Begriffs als den Querschnitt durch kondensierte Katastrophen. Und da ich nie Personen sehe, sondern immer nur das Ich, und nie Geschehnisse, sondern immer nur das Dasein (Da-sein), da ich keine Kunst kenne und keinen Glauben, keine Wissenschaft und keine Mythe, sondern immer nur die
Bewußtheit
, ewig sinnlos, ewig qualbestürmt, – so ist es im Grunde diese, gegen die ich mich wehre, mit der südlichen Zermalmung und sie, die ich abzuleiten trachte in ligurische Komplexe bis zur Überhöhung oder bis zum Verlöschen im Außersich des Rausches oder des Vergehens. 58
     
    Das letzte Kapitel der Biographie des (modernen) Ich aber sei noch nicht geschrieben, eines Ich, das »Zug für Zug den Gedanken des Subjektivismus in sich bildet, daß die ganze Welt als ein inneres Erlebnis ihm gegeben ist«. 59
    Hier sei er angekommen, »schreiend nach Zeugung, hungernd in den Fäusten, dir Stücke aus dem Leib der Welt zu reißen, sie formend und sich tief in sie vergessend« 60 – der Mann ohne Gedächtnis,
zwischen Asphodelen schaut er sich selbst in stygischer Flut.
    Man mag den Selbstvergessenen für politisch naiv halten: Seine Analysen sind konzise und die Formulierungen brillant. Warum aber hat er den Titel geändert? Möglich, dass sich das Vergebliche und die Zukunftslosigkeit seiner geschichtlichen Vision im Bild des
Mannes ohne Gedächtnis
zu deutlich abzeichneten, des Mannes, der am Vorabend der abendländischen Geschichtslosigkeit stand und dabei das Transzendentalfundament der schöpferischen Lust betreten hatte. Vielleicht war ihm aber auch der Titel schlicht zu reißerisch und missverständlich, als er ihn durch den nüchterneren
Das moderne Ich
ersetzte, der eher in die Zukunft wies. Benn wusste nicht, wohin ihn sein tiefer Glaube an die »geschichtliche Wendung zur hyperämischen Metaphysik« 61 führen würde; das war für ihn weitgehend unbetretenes Land, und somit war auch dieser Text mehr Programm als Realität.
     
Das letzte also war die Kunst. Die neue Kunst, die Artistik, die nachnietzschesche Epoche, wo immer sie groß wurde, wurde es erkämpft aus der Antithese aus Rausch und Zucht. Auf der einen Seite immer der tiefe Nihilismus der Werte, aber über ihm die Transzendenz der schöpferischen Lust. Hierüber hat uns nichts herausgeführt, keine politische, keine mythische, keine rassische, keine kollektive Ideologie bis heute nicht. 62

Belanglos
     
     
    »Belangloser Entwicklungsgang, belangloses Dasein als Arzt in Berlin.« 63 Mit dieser von sich und den Problemen, eine Stellung in der Gesellschaft zu finden – und sei sie noch so sehr an ihrem Rand platziert –, ablenkenden autobiographischen Einlassung sowie acht seiner Gedichte 64 stellte sich Benn in der »Symphonie jüngster Dichtung«
Menschheitsdämmerung
vor. Kurt Pinthus, den Herausgeber, hatte Benn bereits vor dem Krieg durch Else Lasker-Schüler kennengelernt. Die bis heute mit Abstand erfolgreichste Lyrik-Anthologie verkaufte sich allein 1920 in drei Auflagen fünftausend Mal, und es kann nicht anders gewesen sein, als dass dies dem Selbstbewusstsein des 34-jährigen literarischen Außenseiters guttat.
    Soeben war sein zweiter Halbbruder, Hans-Christoph, geboren worden, das letzte seiner Geschwister. Eigentlich sind Gottfried alle fremd geblieben, vor allem weil sie »so normal und bieder sind und ohne Schwierigkeiten dahinleben«. 65
    Die Ehe mit Edith war ebenfalls eine große Enttäuschung. Als Benn 1938 zum zweiten Mal heiratete und Brieffreund Oelze davon unterrichtete, wollte er

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