Gottspieler
werfen. Überrascht stellte sie fest, daß es schon fast acht Uhr war. Unzufrieden mit sich selbst, stand sieauf und ging ins Badezimmer. Sie hatte es nicht gern, wenn sie sich das Insulin erst so spät geben konnte.
Die Zuckerwerte in ihrem Urin waren ein wenig gestiegen. Sie nahm ihre Medizin aus dem Kühlschrank, ging damit zum Schreibtisch und zog die Spritze auf, wobei sie äußerste Sorgfalt walten ließ. Anschließend injizierte sie sich das Insulin in den linken Oberschenkel.
Sie achtete darauf, die Nadel abzubrechen, bevor sie die Spritze in den Papierkorb warf und die Insulinphiolen wieder im Kühlschrank verstaute. Dann entfernte sie das Pflaster von ihrem linken Auge und träufelte sich die Tropfen, die ihr verschrieben worden waren, auf die Pupille. Sie war gerade auf dem Weg in die Küche, als ihr plötzlich übel wurde.
Sie blieb mitten auf der Treppe stehen, denn sie glaubte, daß der Anfall schnell vorübergehen würde. Aber das tat er nicht. Schweiß trat ihr auf die Stirn. Verwirrt, weil sie sich nicht vorstellen konnte, daß Augentropfen eine solche Wirkung haben sollten, kehrte sie in ihr Zimmer zurück und las das Etikett. Wie sie vermutet hatte, handelte es sich um ein Antibiotikum. Sie stellte das Fläschchen an seinen Platz zurück und wischte sich die Hände ab; sie waren klatschnaß. Wenig später war sie am ganzen Körper schweißgebadet, dazu kam ein wahnsinniges Hungergefühl.
Sie wußte, daß dafür kaum die Augentropfen verantwortlich sein konnten. Es handelte sich um einen neuen Insulinschock. Zuerst dachte sie, daß sie vielleicht die Kalibrierung auf der Spritze falsch gelesen hatte, aber ein einziger Blick auf das leere Gehäuse zerstreute diesen Verdacht. Auch das Insulin war dasselbe wie sonst. Cassi schüttelte den Kopf und fragte sich, wie ihr Zuckerspiegel so plötzlich umkippen konnte.
Wie auch immer, die Ursache des Schocks war weniger wichtig als die Gegenmaßnahmen. Sie mußte sofort etwas essen. Gerade wollte sie zum zweitenmal zur Küche hinuntergehen, als ihr Herz wie wild zu schlagen begann. Der Schweiß strömte jetzt nur so über ihren Körper, und ihre Hände zitterten so sehr, daß sie nicht einmal ihren Puls zu fühlen vermochte. Im selben Moment wußte sie, daß Essen jetzt nichts mehr nützte. Von Panik ergriffen rannte sie zurück in ihr Zimmer und riß den Schrank auf. Irgendwo mußte sie doch noch ihren schwarzen Arztkoffer aus der Zeit ihrer praktischen Ausbildung haben! Verzweifelt schob sie den unnützen Krimskrams beiseite, der sich im Lauf der Jahre davor angesammelt hatte. Da war er ja!
Cassi riß den Koffer heraus, fummelte an den Verschlüssen herum, bis der Deckel aufsprang, und schüttete den Inhalt auf den Boden. Endlich fand sie den Behälter, den sie suchte – Glukose, in Wasser aufgelöst. Mit zitternden Händen zog sie eine Spritze auf und injizierte sich den Inhalt. Die Wirkung war gleich Null. Das Zittern wurde noch schlimmer, und sie merkte, wie ihr Sehvermögen sich verschlechterte.
Hektisch riß sie an den Verschlüssen von mehreren kleinen Infusionsflaschen mit fünfzigprozentiger Glukoselösung, die sich auch in dem Koffer befunden hatten. Nach einigen vergeblichen Versuchen gelang es ihr, sich selbst eine Aderpresse anzulegen. Dann stieß sie sich mit zuckenden Fingern eine Flügelnadel in eine der Venen auf ihrem linken Handrücken. Blut quoll aus dem offenen Ende der Nadel, aber sie kümmerte sich nicht darum. Sie löste die Aderpresse und schob den Schlauch der IV-Flasche auf das offene Ende der Nadel. Als sie die Flasche hoch über ihren Kopf hielt, drängte die klare Flüssigkeit das Blut langsam wieder in ihre Hand zurück und begann frei zu fließen.
Sie wartete einen Moment, bis sie sich etwas besser fühlte und ihr Sehvermögen wieder normal wurde. Dann klemmte sie sich die Flasche zwischen Wange und Schulter und befestigte die Flügelnadel mit ein paar Streifen Leukoplast auf ihrer Hand. Allerdings hielten die Pflaster nicht sehr gut, weil dieHaut noch feucht von ausgetretenem Blut war. Cassi nahm die Flasche wieder in die rechte Hand, lief ins Schlafzimmer, legte den Telefonhörer neben den Apparat und wählte 911. Sie hatte entsetzliche Angst, das Bewußtsein zu verlieren, ehe jemand auf ihren Notruf reagierte. Endlich wurde am anderen Ende abgehoben, und eine Stimme sagte: »Notruf 911.«
»Ich brauche einen Krankenwagen …«, rief Cassi in den Hörer, aber die Stimme am anderen Ende unterbrach sie und rief:
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