Gottspieler
»Hallo, hallo!«
»Können Sie mich verstehen?« fragte Cassi.
»Hallo, hallo!«
»Können Sie mich hören?« schrie Cassi, von neuer Panik erfüllt.
Die Stimme am anderen Ende sagte etwas, das offenbar nicht für Cassi bestimmt war, dann wurde wieder aufgelegt. Cassi versuchte es noch einmal, mit demselben Ergebnis. Dann wählte sie die Nummer der Telefonvermittlung. Auch hier dasselbe. Es war zum Verrücktwerden; sie konnte die Leute hören, die Leute sie hingegen nicht.
Mit der freien Hand griff sie sich eine weitere IV-Flasche und lief auf wackeligen Beinen in das Arbeitszimmer ihres Mannes, wobei sie die erste Infusionsflasche unablässig hochhielt. Zu ihrem Entsetzen funktionierte das Telefon im Arbeitszimmer genausowenig. Sie konnte die Teilnehmer am anderen Ende vergeblich rufen hören, aber ganz offensichtlich drang ihre Stimme nicht bis zu ihnen. Sie brach in Tränen aus, legte den Hörer wieder auf und ergriff die zweite IV-Flasche.
Ihre Angst drohte Überhand zu nehmen. Nur mit Mühe schaffte sie es die Treppe hinunter, ohne zu fallen. Auch die Nebenanschlüsse in der Küche und im Wohnzimmer waren kaputt.
Cassi spürte, wie sie müde zu werden begann, ungeheuer müde. Taumelnd lief sie durch die Diele zum Eingang. Ihre Schlüssel lagen auf einem kleinen Seitentisch. Sie packte denBund mit derselben Hand wie die unbenutzte IV-Flasche. Ihr erster Gedanke war, zum nächsten Krankenhaus zu fahren – eine Strecke von etwa zehn Minuten. Solange die Infusion lief, hatte sie den Insulinschock anscheinend unter Kontrolle.
Als sie die schwere Haustür zu öffnen versuchte, mußte sie die über ihren Kopf erhobene Flasche für einen Moment aus der Hand legen. Sofort strömte Blut in den Infusionsschlauch, wich aber gleich zurück, kaum daß sie die Flasche wieder hochgehoben hatte.
Die kalte, verregnete Nacht ließ ihre Lebensgeister neu erwachen, während sie auf die Garage zulief. Die Wagentür aufzukriegen und hinter das Steuer zu kriechen, ohne die IV-Flasche sinken zu lassen, war die reinste Jonglierarbeit. Sie kippte den Innenspiegel herunter und schob den Ring der Flasche darüber. Dann drehte sie den Schlüssel im Zündschloß.
Der Anlasser leierte und leierte, aber der Motor sprang nicht an. Sie zog den Schlüssel ab und schloß die Augen. Sie zitterte am ganzen Körper. Warum ließ sich der Wagen nicht starten? Sie versuchte es noch einmal, wieder ohne Ergebnis. Ein Blick auf die IV-Flasche zeigte ihr, daß der Inhalt fast durchgelaufen war. Mit flatternden Händen entfernte sie den Verschluß der zweiten. Selbst in der kurzen Zeit, die es dauerte, bis sie die Flaschen getauscht hatte, konnte sie schon die Wirkung spüren. Es gab keinen Zweifel, daß sie das Bewußtsein verlieren würde, sobald die Glukose zu Ende gegangen war.
Ihre einzige Chance war Patricias Telefon. Sie lief aus der Garage in den Regen hinaus, stolperte um die Ecke und drückte auf den Klingelknopf ihrer Schwiegermutter, wobei sie die ganze Zeit die Infusionsflasche über ihren Kopf hielt.
Wie bei ihrem ersten Besuch konnte sie Patricia die Treppe herunterkommen sehen. Die alte Dame ließ sich Zeit und spähte erst vorsichtig in die Nacht hinaus, ehe sie öffnete. Als sie Cassi mit der hocherhobenen IV-Flasche erblickte, schob sie rasch den Riegel zurück und riß die Tür auf.
»Mein Gott!« rief sie, als sie sah, wie blaß Cassi war. »Was ist geschehen?«
»Insulinschock«, brachte Cassi heraus. »Krankenwagen rufen.«
Wie gelähmt vor Entsetzen blockierte Patricia den Eingang. Besorgt fragte sie: »Warum haben Sie nicht vom Haupthaus aus telefoniert?«
»Ging nicht. Alle Telefone gestört. Bitte.«
Ungeschickt schob sich Cassi an Patricia vorbei. Die alte Dame wich zurück und geriet ins Stolpern. Cassi hatte keine Zeit für lange Diskussionen. Sie brauchte ein Telefon.
Patricia war empört. Selbst wenn es Cassi nicht gut ging, gab es keinen Anlaß für ein derart ruppiges Benehmen. Aber Cassi ignorierte die Vorwürfe ihrer Schwiegermutter einfach und war bereits im Wohnzimmer und am Telefon, als Patricia sie endlich einholte. Sie wählte 911 und stellte zu ihrer maßlosen Erleichterung fest, daß sie diesmal am anderen Ende verstanden werden konnte. So ruhig wie möglich nannte sie ihren Namen und ihre Adresse und erklärte, daß sie schnell einen Krankenwagen benötigte. Man versicherte ihr, daß die Ambulanz umgehend auf den Weg geschickt würde.
Erschöpft legte sie den Hörer wieder auf die Gabel, ehe sie
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