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Grab im Wald

Grab im Wald

Titel: Grab im Wald Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Coben
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streiten, mir ist aber jetzt nicht danach. Wer hat den Bericht geschrieben?«
    »Ich weiß es nicht. Sie haben mir die Seiten gegeben und gesagt, dass ich sie Lucy nach und nach zuspielen soll.«
    »Und haben die Ihnen auch gesagt, woher sie die Informationen haben?«
    »Nein.«
    »Und Sie haben auch keine Idee?«
    »Sie haben gesagt, sie hätten ihre Quellen. Hören Sie, die wussten alles über mich. Die wussten alles über Lucy. Aber sie wollten Sie, Freundchen. Alles andere hat sie nicht interessiert. Sie wollten alles wissen, was ich über Paul Copeland rauskriegen kann – alles andere war ihnen egal. Die glauben, dass Sie ein Mörder sein könnten.«
    »Nein, das tun sie nicht, Lonnie. Die glauben, dass Sie ein nützlicher Idiot sind, der ihnen helfen kann, mich unter Druck zu setzen.«
    Bestürzt. Lonnie versuchte angestrengt, bestürzt auszusehen. Er sah Lucy an. »Tut mir wirklich leid. Ich würde niemals irgendwas tun, das dir schadet. Das weißt du doch.«
    »Tu mir einen Gefallen, Lonnie«, sagte sie. »Mach, dass du mir aus den Augen kommst.«

30
    Alexander »Sosch« Siekierky stand allein in seinem Penthaus.
    Der Mensch gewöhnte sich an seine Umgebung. Das war immer so. Er wurde bequem. Zu bequem für einen Mann mit seiner Vergangenheit. Er hatte sich an seinen derzeitigen Lebensstil gewöhnt. Er fragte sich, ob er noch so hart war wie früher, ob er immer noch in diese Zimmer, diese Schlupfwinkel gehen und Verwüstung säen könnte, ohne dabei Angst zu empfinden. Die Antwort, da war er sich sicher, lautete nein. Aber das lag nicht am Alter, dass er weicher geworden war, sondern am Luxus.
    Als er klein war, hatte Soschs Familie während der fürchterlichen Belagerung in Leningrad festgesessen. Die Nazis hatten die Stadt umzingelt und unsagbares Leid verursacht. Sosch war am 21. Oktober 1941, einen Monat nach Beginn der Belagerung, fünf Jahre alt geworden. An seinem sechsten und siebten Geburtstag war die Stadt immer noch belagert. Im Januar 1942, das Brot war auf hundert Gramm pro Tag und Person rationiert, waren Soschs zwölfjähriger Bruder Gavrel und seine achtjährige Schwester Aline verhungert. Sosch hatte überlebt, weil er streunende Tiere aß. Vor allem Katzen. Die Leute kannten diese Geschichten, hatten aber absolut keine Vorstellung von dem Leid und dem Schrecken, die damit verbunden waren. Man wurde machtlos. Man nahm es einfach hin.
    Aber auch daran, selbst an diesen Schrecken – man gewöhnte sich daran. Genau wie Luxus kann auch Leid zum Normalfall werden.
    Sosch erinnerte sich noch, wie er zum ersten Mal in die USA gekommen war. Man konnte überall etwas zu essen kaufen. Es gab keine langen Schlangen. Alles war reichlich vorhanden. Er wusste noch, dass er ein Huhn gekauft hatte. Er hatte es ins Gefrierfach gelegt. Es war ihm einfach unglaublich vorgekommen.
Ein Huhn. Er war nachts schweißgebadet aufgewacht, zum Kühlschrank gerannt, hatte das Gefrierfach geöffnet, das Huhn einfach nur angestarrt und sich sicher gefühlt.
    Gelegentlich machte er das immer noch.
    Viele seiner ehemaligen Kollegen aus der Sowjetunion trauerten den alten Zeiten nach. Ein paar waren in die alte Heimat zurückgekehrt, aber die meisten waren geblieben. Sie waren verbittert. Sosch hatte einige seiner alten Kollegen eingestellt, weil er ihnen vertraute und ihnen helfen wollte. Sie hatten eine Vergangenheit. Und Sosch wusste, dass auch sie in besonders schlechten Zeiten, wenn das Selbstmitleid mit aller Macht über sie hereinbrach, zum Gefrierschrank gingen und darüber staunten, wie weit sie es gebracht hatten.
    Wenn man am Verhungern war, spielten Glück und Erfüllung keine Rolle.
    Das durfte man nie vergessen.
    In diesem absurden Wohlstand verlor man das Gefühl dafür, was wirklich wichtig war. Man machte sich Sorgen über so unnütze Dinge wie Spiritualität, geistige Gesundheit, Zufriedenheit und Beziehungen. Man vergaß, wie viel Glück man eigentlich hatte. Man hatte keine Vorstellung mehr davon, wie es war, wenn man hungerte, wenn man mit ansehen musste, wie man selbst vom Fleisch fiel, wenn man hilflos danebenstand, wie jemand, den man liebte, jemand, der ansonsten jung und gesund war, langsam einging und etwas in einem, ein furchtbarer Instinkt, heimliche Freude darüber empfand, weil man an diesem Tag anderthalb Bissen Brot bekam statt eines einzigen Bissens wie sonst immer.
    Diejenigen, die glaubten, wir würden uns von den Tieren unterscheiden, waren blind. Alle Menschen waren Wilde. Die

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