Grab im Wald
zwischen sechs und sieben nicht in der Bibliothek.«
Er wich langsam zurück.
»Sie waren da, Lonnie.«
Er lächelte gezwungen und schüttelte den Kopf. Er wollte Zeit gewinnen. »Das ist doch Schwachsinn. Hey, Moment mal …« Das Lächeln verschwand, als er versuchte, den Schockierten und Gekränkten zu spielen. »Ach, komm, Luce, du glaubst doch nicht, dass ich …«
Lucy drehte sich am Fenster um und sah ihn an. Sie sagte nichts.
Lonnie zeigte auf mich. »Du glaubst diesem Typen doch nicht, oder? Er ist …«
»Was bin ich?«
Keine Antwort. Lucy starrte ihn nur an. Sie sagte kein Wort. Sie starrte ihn nur weiter an, bis er den Blick abwandte. Dann sank Lonnie auf den Stuhl.
»Scheiße«, sagte er.
Wir warteten. Er ließ den Kopf hängen.
»Sie verstehen das nicht.«
»Erzählen Sie«, sagte ich.
Er sah Lucy an. »Vertraust du diesem Typ wirklich?«
»Viel mehr als dir«, sagte sie.
»Würd ich an deiner Stelle nicht machen«, sagte er. »Das ist ’ne ziemlich finstere Gestalt, Luce.«
»Danke für die überschwängliche Empfehlung«, sagte ich. »Und jetzt verraten Sie uns, warum Sie Lucy diesen Bericht geschickt haben?«
Er zupfte an seinem Ohrring herum. »Ich brauch Ihnen gar nichts zu sagen.«
»Natürlich müssen Sie das«, sagte ich. »Ich bin Bezirksstaatsanwalt.«
»Und?«
»Und daher, Lonnie, kann ich Sie wegen Belästigung verhaften lassen.«
»Nein, können Sie nicht. Erstens können Sie nicht beweisen, dass ich das geschickt habe.«
»Natürlich kann ich das. Sie glauben vielleicht, dass Sie sich gut mit Computern auskennen, und das tun Sie wahrscheinlich auch auf eine schlichte Art, mit der Sie Studentinnen beeindrucken können. Aber die Fachleute, die für mich arbeiten – na ja, das sind eben ausgebildete Profis. Wir wissen schon, dass Sie die Berichte geschickt haben. Wir haben den Beweis schon in der Hand.«
Er überlegte, ob er das Ganze weiter abstreiten oder einen neuen Weg einschlagen sollte. Er entschied sich für den neuen Weg. »Na und? Selbst wenn ich das geschickt habe. Wieso ist
das eine Belästigung? Seit wann ist es verboten, einer Professorin für Literatur eine fiktionale Geschichte zu schicken?«
Da hatte er nicht ganz Unrecht.
Lucy sagte: »Ich lass dich feuern.«
»Kann schon sein. Aber eins ist dir dabei doch wohl klar, Lucy: Du hast viel mehr zu erklären als ich. Du bist diejenige, die ihre Vergangenheit versteckt hat. Du hast deinen Namen geändert, um deine Vorgeschichte geheim zu halten.«
Das Argument gefiel Lonnie. Er richtete sich auf, verschränkte die Arme und sah uns herausfordernd an. Ich hatte große Lust, ihm eine reinzuhauen. Lucy starrte ihn weiter an. Er konnte ihr nicht in die Augen sehen. Ich hielt mich zurück und überließ ihr das Feld.
»Ich dachte, wir sind Freunde«, sagte sie.
»Sind wir auch.«
»Und?«
Er schüttelte den Kopf. »Das verstehst du nicht.«
»Dann erklär’s mir.«
Lonnie begann wieder, an seinem Ohrring herumzuzupfen. »Nicht, wenn er dabei ist.«
»Doch, wenn ich dabei bin.«
So viel zur Zurückhaltung.
Ich gab ihm einen Klaps auf die Schulter. »Ich bin Ihr neuer bester Kumpel. Wissen Sie, warum?«
»Nein.«
»Weil ich ein mächtiger und wütender Staatsanwalt bin. Und ich gehe einfach mal davon aus, dass meine Ermittler auf etwas stoßen, wenn sie nur lange genug in Ihrer Vergangenheit suchen.«
»Keine Chance.«
»Aber klar doch«, sagte ich. »Wollen Sie ein paar vorläufige Ergebnisse hören?«
Er blieb ruhig.
Ich zeigte ihm meinen BlackBerry. »Hier habe ich Ihr Vorstrafenregister. Soll ich von oben anfangen?«
Der herausfordernde Blick verabschiedete sich.
»Ich hab sie alle hier, mein Freund. Sogar das offiziell gesperrte Zeug. Und genau das meinte ich eben, als ich gesagt habe, dass ich ein mächtiger und wütender Staatsanwalt bin. Wenn ich will, krieg ich Sie von heute bis Sonntag fünfmal am Arsch. Also hören Sie mit dem Scheiß auf und erzählen Sie uns, warum Sie die Berichte geschickt haben.«
Ich sah Lucy an. Sie nickte fast unmerklich. Sie hatte es wohl verstanden. Bevor Lonnie hier war, hatten wir eine Strategie verabredet. Aber wenn sie mit ihm allein war, würde Lonnie wieder zu Lonnie werden – er würde lügen, Geschichten erzählen, steppen und skaten und die enge Beziehung ausnutzen, die er zu ihr hatte. Ich kannte diesen Typ. Er würde die coole Yah-Dude -Nummer abziehen und versuchen, sein charmantes, schräges Lächeln aufzusetzen. Aber wenn man genug
Weitere Kostenlose Bücher