Grab im Wald
einer Weile fragte Lowell: »Und wie lange sind Sie schon Chefermittlerin?«
»Seit ein paar Monaten.«
»Und vorher?«
»War ich drei Jahre in der Mordkommission.«
Wieder wischte er sich die riesige Nase ab. »Es wird nie leichter, oder?«
Sie hielt es für eine rhetorische Frage, also ging sie einfach weiter.
»Dabei geht’s gar nicht um die Verbrechen«, sagte er. »Und nicht mal um die Toten. Die sind tot. Da kann man nichts mehr dran ändern. Es geht um das, was noch zurückbleibt – den Nachhall. Der Wald, durch den wir hier gehen. Ein paar von den Alten glauben, dass die Schreie der Jugendlichen hier im Wald nie ganz verklingen, sondern ihr Echo immer noch zwischen den Bäumen hin und her echot. Das ist gar nicht so dumm, wenn man mal richtig drüber nachdenkt. Dieser Billingham-Junge. Der hat bestimmt geschrien. Er schreit, der Schall wird immer wieder zurückgeworfen, prallt hin und her, wird dabei immer leiser, verhallt aber nie ganz. Das ist dann so, als ob er immer noch schreit. Viele Morde haben einen solchen Nachhall.«
Muse stapfte mit gesenktem Kopf weiter und achtete auf dem unebenen Boden darauf, wohin sie trat.
»Haben Sie je ein Mitglied der Opferfamilien kennengelernt?«
Sie überlegte. »Einer davon ist mein Chef.«
»Paul Copeland«, sagte Lowell.
»Sie erinnern sich an ihn?«
»Ich hab, wie gesagt, jeden vernommen, der damals im Lager war.«
Wieder läutete die Alarmglocke in Muses Kopf.
»Hat er Ihnen den Auftrag gegeben, sich den Fall näher anzusehen?«
Sie antwortete nicht.
»Mord ist ungerecht«, fuhr er fort. »Es ist so, als ob Gott seinen Plan gemacht und eine natürliche Ordnung der Dinge geschaffen hat, und dann kommt jemand daher und haut das alles zu Klump. Es hilft dann zwar ein bisschen, wenn man so einen Fall löst. Aber irgendwie ist es doch so, als ob jemand ein Stück Alufolie zerknüllt hat. Wenn man den Mörder findet, kann man sie wieder ausbreiten, aber für die Opferfamilie sieht sie doch nie wieder so wie vorher aus.«
»Alufolie?«
Lowell zuckte die Achseln.
»Sie sind wohl so eine Art Philosoph, Sheriff.«
»Sehen Sie Ihrem Chef gelegentlich in die Augen? Gucken Sie nach dem, was damals hier im Wald passiert ist? Es ist immer noch da. Der Nachhall ist noch zu erkennen, stimmt’s?«
»Ich weiß nicht«, sagte Muse.
»Und ich weiß nicht, ob Sie hier sein sollten.«
»Warum?«
»Weil ich Ihren Chef damals auch vernommen habe.«
Muse blieb stehen. »Wollen Sie damit sagen, dass ein Interessenkonflikt besteht?«
»Ich glaube, genau das wollte ich sagen.«
»Paul Copeland stand unter Verdacht?«
»Die Akte ist noch nicht geschlossen. Und trotz Ihrer Einmischung ist es immer noch mein Fall. Also werde ich die Frage
nicht beantworten. Aber eins kann ich Ihnen sagen. Er hat damals gelogen.«
»Er war ein Jugendlicher, der Wachdienst hatte. Er konnte damals nicht einschätzen, wie ernst die ganze Sache tatsächlich war.«
»Das ist keine Entschuldigung.«
»Er hat doch hinterher alles gestanden, oder?«
Lowell antwortete nicht.
»Ich habe die Akte gelesen«, sagte Muse. »Er hat sich davongeschlichen und hat seine Pflicht als wachhabender Betreuer massiv vernachlässigt. Sie reden über den Nachhall und die Verwüstungen, die durch so etwas in den Familien angerichtet werden. Überlegen Sie doch mal, was für eine Schuld er deshalb empfinden muss! Natürlich vermisst er seine Schwester. Aber ich glaube, die Schuld nagt noch mehr an ihm.«
»Interessant.«
»Was?«
»Sie sagen, die Schuld nagt an ihm«, wiederholte Lowell. »Welche Schuld?«
Sie sah ihn schweigend an.
»Außerdem ist es schon seltsam, finden Sie nicht?«
»Was ist seltsam?«, fragte Muse.
»Dass er seinen Posten gerade in dieser Nacht verlassen hat. Na ja, überlegen Sie doch mal. Da sitzt ein sehr verantwortungsbewusster Bursche. Das haben damals alle bestätigt. Und plötzlich, gerade in der Nacht, in der die anderen Jugendlichen sich wegschleichen wollen, in der Nacht, in der Wayne Steubens plant, mehrere Morde zu begehen, beschließt Paul Copeland, es ruhig angehen zu lassen.«
Muse sagte nichts.
»Das, meine junge Kollegin, waren mir immer ein paar Zufälle zu viel.«
Lowell lächelte und wandte sich ab.
»Kommen Sie«, sagte er. »Es wird dunkel, und Sie wollen doch bestimmt noch sehen, was Ihr Freund Barrett gefunden hat.«
Als Glenda Perez gegangen war, weinte ich nicht, war den Tränen aber sehr nah.
Ich saß allein und vollkommen fassungslos in
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