Grab im Wald
flüsterte der Wind ein altes Lied. Muse sah zu Boden. Ein Kind. Billingham war gerade sechzehn Jahre alt gewesen. Als man ihn fand, hatte er acht Stichwunden davongetragen, die meisten in Armen und Händen.
Er hatte sich gegen seinen Angreifer gewehrt. Muse sah Lowell an. Er stand mit gesenktem Kopf und geschlossenen Augen neben ihr.
Muse fiel noch etwas ein, das sie in der Akte gelesen hatte. Lowell. Der Name. »Peripher, verdammte Scheiße noch mal«, sagte sie. »Sie haben damals die Ermittlungen geleitet.«
Lowell antwortete nicht.
»Das versteh ich nicht. Warum haben Sie mir das nicht gesagt?«
Er zuckte die Achseln. »Warum haben Sie mir nicht gesagt, dass Sie meinen Fall wieder aufnehmen?«
»Das haben wir eigentlich nicht. Na ja, ich hab gedacht, wir haben ja noch nichts in der Hand.«
»Also haben Sie Ihre Jungs auf blauen Dunst rausgeschickt«, sagte er. »Und die haben einfach Schwein gehabt?«
Muse gefiel die Richtung, die das Gespräch jetzt nahm, überhaupt nicht.
»Wie weit sind wir hier von dem Ort entfernt, an dem Margot Green gefunden wurde?«, fragte sie.
»Das war knapp einen Kilometer südlich von hier.«
»Sie wurde zuerst gefunden, oder?«
»Ja. Als Sie hier reingekommen sind, haben Sie doch die Eigentumswohnungen gesehen. Da standen die Hütten, in denen die Mädchen gewohnt haben. Die Jungs waren auf der anderen Seite, weiter im Süden. Margot Green wurde in der Nähe der Jungshütten gefunden.«
»Nachdem Margot Greens Leiche gefunden worden war, wie lange hat es dann noch gedauert, bis Sie den Billingham-Jungen gefunden haben?«
»Sechsunddreißig Stunden.«
»Das ist viel Zeit.«
»Wir mussten eine große Fläche absuchen.«
»Trotzdem. Lag er einfach so im Unterholz?«
»Nein, er war vergraben. Zwar ziemlich flach, aber es hat gereicht, dass wir ihn beim ersten Durchgang übersehen haben. Sie kennen das ja. Wenn die Leute was über vermisste Kinder hören, kommt der anständige Bürger in ihnen zum Vorschein, und so sind alle hier aufgetaucht und wollten uns bei der Suche helfen. Sie müssen direkt über ihn rübergelaufen sein. Und keiner hat bemerkt, dass er da vergraben war.«
Muse starrte zu Boden. Absolut nicht bemerkenswert. Da stand zwar ein Kreuz – ähnlich wie die, die an Straßen für Unfallopfer
aufgestellt sind –, aber es war alt und fast schon umgekippt. Es gab kein Foto, keine persönlichen Gegenstände, keine Blumen oder Teddybären. Nur dieses alte Kreuz ganz allein hier draußen im Wald. Muse schauderte kurz.
»Der Mörder – aber das wissen Sie wahrscheinlich auch – war ein gewisser Wayne Steubens. Er war Betreuer im Ferienlager, wie sich dann herausgestellt hat. Es gibt die verschiedensten Theorien über das, was in der Nacht passiert ist, im Großen und Ganzen besteht allerdings Konsens darüber, dass Steubens die verschwundenen Jugendlichen – Perez und Copeland – zuerst erwischt hat. Er hat sie vergraben. Er war noch dabei, das Grab für Douglas Billingham auszuheben, als Margot Greens Leiche entdeckt wurde. Also hat er es notdürftig zugemacht und ist abgehauen. Dieses große Tier vom FBI in Quantico meint, dass das Vergraben der Leichen ihm noch einen Extrakick verschafft hat. Sie wissen doch sicher, dass Steubens die anderen Opfer alle begraben hat. Die in den anderen Bundesstaaten?«
»Ja, das weiß ich.«
»Wussten Sie auch, dass zwei noch am Leben waren, als er sie begraben hat?«
Auch das wusste sie. »Haben Sie Wayne Steubens je vernommen?«, fragte Muse.
»Wir haben mit allen Personen gesprochen, die im Ferienlager waren.«
Er sagte das sehr langsam und bedächtig. In Muses Kopf klingelte eine Alarmglocke. Lowell fuhr fort.
»Und natürlich ist dieser Steubens-Junge mir unheimlich gewesen – das glaube ich jetzt zumindest. Vielleicht habe ich mir das aber auch erst im Nachhinein eingeredet, das kann ich nicht mehr genau sagen. Es gab keine Hinweise auf eine Verbindung zwischen Steubens und den Morden. Eigentlich gab es überhaupt keine Hinweise auf irgendjemanden. Außerdem war Steubens reich. Seine Familie hatte ihm einen Anwalt besorgt.
Und wie Sie sich sicher vorstellen können, wurde das Lager sofort geräumt. Die Jugendlichen sind alle nach Hause gefahren. Steubens wurde fürs nächste Semester ins Ausland geschickt. Ich glaube auf eine Universität in der Schweiz.«
Muse konnte ihren Blick nicht vom Kreuz lösen.
»Gehen wir weiter?«
Sie nickte. Dann machten sie sich schweigend wieder auf den Weg.
Nach
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