Grab im Wald
nachdachte. Aber irgendwie fand ich das Foto eigenartig bedeutsam, trotz der Schmerzen, die damit verbunden waren. Wenn ich meine Noni und meinen Popi ansah, dachte ich oft über die Höhen und Tiefen des Lebens nach und sinnierte auch manchmal darüber, ob
vielleicht ein Fluch auf der Familie lag und wo das Ganze seinen Anfang genommen hatte.
Bis vor kurzem hatten auch noch Fotos von Jane und Camille auf dem Schreibtisch gestanden. Ich hatte sie einfach gern im Blick. Sie trösteten mich. Aber dass mich diese Fotos von Toten trösteten, bedeutete nicht, dass es meiner Tochter genauso ging. Bei einer Sechsjährigen war das eine schwierige Gratwanderung. Natürlich will ich ihr von ihrer Mutter erzählen. Sie soll viel über Jane erfahren, über ihren wunderbaren Charakter und darüber, wie sehr sie ihre kleine Tochter geliebt hat. Natürlich möchte ich sie trösten, und ihr sagen, dass ihre Mama oben im Himmel sitzt und von dort auf sie aufpasst. Aber ich glaube das nicht. Ich würde es gern. Ich möchte glauben, dass es ein herrliches Leben nach dem Tod gibt und meine Frau, meine Schwester und mein Vater von oben auf uns herablächeln. Aber ich kann mich nicht davon überzeugen. Und wenn ich es meiner Tochter erzähle, komme ich mir vor, als würde ich sie belügen. Natürlich mache ich es trotzdem. Ich gehe damit so um wie die meisten Eltern mit dem Weihnachtsmann und dem Osterhasen – es ist eine zeitlich befristete Lügengeschichte, von der sie beizeiten erfahren wird, dass sie – wie alle elterlichen Lügen – nur schwer zu rechtfertigen ist. Aber vielleicht irre ich mich ja auch, und die drei sitzen da oben und blicken nachsichtig auf uns herab. Vielleicht wird Cara es eines Tages so sehen.
Um Mitternacht erlaubte ich meinen Gedanken endlich, dahin abzuschweifen, wohin sie schon die ganze Zeit wollten – zu meiner Schwester Camille, Gil Perez und dem märchenhaft schrecklichen Sommer. Ich dachte an das Ferienlager. Ich dachte an Camille. Ich dachte an jene Nacht. Und zum ersten Mal seit vielen Jahren gestattete ich mir auch, an Lucy zu denken.
Ein Lächeln huschte mir übers Gesicht. Lucy Silverstein war meine erste richtige Freundin gewesen. Es war so schön gewesen, eine märchenhafte Sommerromanze – bis zu jener Nacht. Wir
hatten gar nicht die Gelegenheit gehabt, uns zu trennen – wir wurden durch die blutigen Morde auseinandergerissen. Unsere Beziehung wurde zerschlagen, als wir noch mitten darin steckten und unsere Liebe – so töricht und unreif sie auch gewesen sein mag – noch wuchs und gedieh.
Doch Lucy war Vergangenheit. Ich hatte mir ein Ultimatum gestellt und sie dann ausgeblendet. Aber das Herz hält sich nicht an Ultimaten. Im Lauf der Jahre habe ich immer mal beiläufig versucht herauszubekommen, was Lucy so tat, und ihren Namen im Internet gesucht und so weiter, obwohl ich sehr bezweifle, dass ich je genug Mut zusammenbekommen hätte, um mich bei ihr zu melden. Ich habe auch nie etwas über sie gefunden. Nach alldem, was damals passiert war, war sie wahrscheinlich so klug gewesen, ihren Namen zu ändern. Vermutlich war sie verheiratet – so wie ich es ja auch gewesen war – und lebte in einer glücklichen Ehe. Ich wünschte es ihr.
Ich schob diese Gedanken beiseite. Ich musste über Gil Perez nachdenken. Ich schloss die Augen und konzentrierte mich auf die Vergangenheit. Ich dachte an unsere gemeinsame Zeit im Sommerlager, daran, wie wir herumgetobt hatten, wie ich ihm aus Spaß auf den Arm geschlagen hatte, wie er geantwortet hatte: »Schwächling, ich hab das gar nicht gemerkt …«
Jetzt sah ich ihn vor mir, seinen hageren Körper in den viel zu weiten Hosen – lange bevor das Mode geworden war –, sein Lächeln, das nach einer größeren Kieferoperation verlangte, seine …
Ich öffnete die Augen. Irgendetwas stimmte nicht.
Ich ging in den Keller. Der Pappkarton stand da, wo er hingehörte. Jane hatte alles ordentlich beschriftet. Ich betrachtete ihre extrem ordentliche Handschrift auf dem Karton. Ich zögerte. Eine Handschrift ist etwas so Persönliches. Ich strich mit den Fingerspitzen darüber, folgte den Buchstaben und stellte mir vor, wie sie, die Kappe im Mund, einen dicken Filzstift in
der Hand, davor gesessen und in Großbuchstaben geschrieben hatte: FOTOS – COPELANDS.
Ich hatte im Leben viele Fehler gemacht. Aber Jane … sie war der eine echte Volltreffer gewesen. Ihre Güte hatte mich verändert, mich in jeder Beziehung zu einem besseren
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