Grab im Wald
gelegentlich. Man guckt sich das eigene Kind an, und ich meine jetzt in einer ganz normalen Alltagssituation, nicht wenn es irgendwo auf der Bühne oder dem Sportplatz steht, sondern während es einfach nur dasitzt und einen anschaut, und plötzlich weiß man, dass dieses Kind der einzige wahre Grund zu leben ist, und man schmilzt dahin, bekommt es mit der Angst zu tun und möchte die Zeit anhalten.
Ich hatte meine Schwester und meine Frau verloren. Und es war gar nicht lange her, dass ich auch meinen Vater verloren hatte. In allen drei Fällen war ich wieder auf die Beine gekommen. Aber als ich Cara jetzt ansah, wie sie gestikulierte, erzählte und dabei die Augen weit aufriss, wusste ich, dass es einen Schlag gab, von dem ich mich niemals erholen würde.
Ich dachte an meinen Vater. Im Wald. Mit dem Spaten. Mit gebrochenem Herzen. Auf der Suche nach seiner kleinen Tochter. Ich dachte an meine Mutter. Sie hatte uns verlassen. Ich wusste nicht, wo sie war. Manchmal überlege ich immer noch, ob ich sie suchen soll. Aber nicht mehr so oft. Ich habe sie jahrelang gehasst. Womöglich hasse ich sie immer noch. Aber vielleicht verstehe ich sie jetzt auch besser, seit ich ein eigenes Kind habe, begreife, welche Schmerzen sie empfunden haben muss.
Als wir wieder zu Hause ankamen, klingelte das Telefon. Estelle nahm mir Cara ab. Ich griff zum Hörer und meldete mich.
»Wir haben ein Problem, Cope.«
Es war Bob, mein Schwager, Gretas Mann. Er war Vorsitzender
der Stiftung JaneCare. Nach dem Tod meiner Frau hatte ich sie mit Greta und Bob zusammen gegründet. Die Stiftung hatte mir viel gute Presse gebracht. Sie war mein Denkmal für meine liebevolle, sanfte und schöne Frau.
Gott, was muss ich doch für ein wunderbarer Ehemann gewesen sein.
»Was ist los?«, fragte ich.
»Dein Vergewaltigungsfall kostet uns viel Geld. Edward Jenrettes Vater hat ein paar seiner Freunde dazu gebracht, ihre Zahlungen zu stornieren.«
Ich schloss die Augen. »Nobel.«
»Und es kommt noch besser. Er behauptet, wir hätten Stiftungsgelder unterschlagen. EJ Jenrette ist ein riesengroßes Arschloch mit allerbesten Verbindungen. Ich hab schon jede Menge Anrufe gekriegt.«
»Dann öffnen wir die Bücher«, sagte ich. »Sie werden nichts finden.«
»Sei nicht so naiv, Cope. Wir konkurrieren mit anderen Wohltätigkeitsorganisationen um Spender. Wenn es auch nur den Hauch eines Skandals gibt, sind wir erledigt.«
»Ansonsten können wir nicht viel machen, Bob.«
»Ich weiß. Es ist bloß … wir tun viel Gutes, Bob.«
»Ich weiß.«
»Und es ist schwierig, das Geld zusammenzubekommen.«
»Und was schlägst du vor?«
»Nichts.« Bob zögerte, und ich wusste, dass er noch mehr dazu sagen wollte. Also wartete ich. »Aber hör zu, Cope, es werden doch dauernd irgendwelche Absprachen zwischen Staatsanwaltschaft und Verteidigung gemacht, oder?«
»Stimmt.«
»Da lasst ihr eine minderschwere Ungerechtigkeit durchgehen, damit ihr jemanden wegen einer größeren drankriegen könnt.«
»Wenn’s sein muss.«
»Diese beiden Jungs. Das sollen ganz nette Burschen sein, hab ich gehört.«
»Da musst du dich wohl verhört haben.«
»Pass auf, ich sag ja nicht, dass sie die Strafe nicht verdient haben, aber manchmal muss man die Dinge eben gegeneinander abwägen und sich für das höhere Gut entscheiden. Es läuft ziemlich gut bei JaneCare. Das könnte wichtiger sein. Mehr will ich damit gar nicht sagen.«
»Gute Nacht, Bob.«
»Nimm’s mir nicht übel, Cope. Ich wollte nur helfen.«
»Ich weiß. Gute Nacht, Bob.«
Ich legte auf. Mir zitterten die Hände. Jenrette, dieses Arschloch, war nicht auf mich losgegangen. Er war auf das Vermächtnis meiner Frau losgegangen. Ich ging die Treppe hinauf. Wut erfasste mich. Ich würde diese Wut kanalisieren. Ich setzte mich an den Schreibtisch. Ich hatte nur zwei Bilder darauf stehen. Eins war das aktuelle Schulfoto meiner Tochter Cara. Es hatte einen Ehrenplatz in der Mitte.
Das zweite Foto war ein grobkörniges Bild von Noni und Popi, aus der alten Heimat, Russland, oder, wie es damals hieß, als sie im Gulag gestorben waren, der Sowjetunion. Als sie starben war ich noch sehr jung, damals hatten wir noch in Leningrad gewohnt, trotzdem kann ich mich noch dunkel an sie erinnern, besonders an Popis weißen Haarschopf.
Warum, frage ich mich oft, steht dieses Bild immer noch auf meinem Schreibtisch?
Hatte ihre Tochter, meine Mutter, mich nicht verlassen? Es war dumm von mir, wenn man so darüber
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