Grab im Wald
einfach so vom Stuhl rutschen und sich auf dem Fußboden in eine Pfütze verwandeln.
»Was ich jetzt erzähle, passierte, als ich siebzehn Jahre alt war«, las Lucy. »Ich war in einem Sommerlager und hatte einen Ferienjob als Hilfsbetreuerin.«
Während sie den Bericht über den Vorfall im Wald weiter vorlas, von der Erzählerin und ihrem Freund »P«, dem Kuss am Baum und den Schreien im Wald, durchschritt sie einen kleinen Kreis innerhalb des großen Rings aus Schreibtischen. Sie hatte den Text schon mindestens zehnmal gelesen, aber jetzt,
wo sie ihn anderen vorlas, spürte sie, wie sich ihre Kehle zusammenzog. Sie bekam weiche Knie. Sie sah Lonnie kurz an. Er hatte offenbar auch etwas in ihrer Stimme gehört und schaute sie an. Sie warf ihm einen Blick zu, der besagte: »Du sollst die Studenten beobachten, nicht mich«, worauf er schnell zur Seite sah.
Als sie fertig war, bat Lucy die Studenten um Wortmeldungen. Das lief inzwischen fast immer nach dem gleichen Schema ab. Die Studenten wussten, dass sich der Verfasser mit ihnen in einem Raum befand. Weil sie aber die einzige Chance dafür, sich in ein positives Licht zu setzen, darin sahen, andere herunterzumachen, nahmen sie die Texte nach Strich und Faden auseinander. Sie meldeten sich und fingen mit einer Art Ausschlussklausel an, zum Beispiel: »Geht es nur mir so?« oder »Vielleicht täusche ich mich ja, aber«, und dann ging es los.
»Die Sprache ist flach.«
»Ich spüre nichts von der angeblichen Leidenschaft für diesen P. Geht das jemand anders?«
»Er hat ihr die Hand unter die Bluse geschoben. Also bitte …«
»Wenn ich ehrlich bin, muss ich sagen, dass es ziemlicher Mist war.«
»Die Erzählerin sagt: ›Wir haben uns geküsst. Es war so leidenschaftlich. ‹ Sie soll mir nicht sagen, dass es leidenschaftlich war, sie soll so schreiben, dass ich es spüre.«
Lucy versuchte zu vermitteln. Dies war der wichtigste Teil des Seminars. Es war schwer, Studenten zu unterrichten. Sie dachte häufig an ihr eigenes Studium zurück, an die stundenlangen, ermüdenden Vorlesungen, von denen sie sich an nichts mehr erinnern konnte. Wirklich etwas gelernt, so dass sie es behalten hatte und später auch weiterverwenden konnte, hatte sie nur aus den kurzen Kommentaren der guten Professoren in den Diskussionen. Bei der Lehre ging es um Qualität, nicht um Quantität.
Wenn man zu viel redete, wurde man zu Muzak – nervtötender Hintergrundmusik. Nur wenn man wenig sagte, blieb zumindest etwas davon hängen.
Professoren standen auch gerne im Mittelpunkt. Auch darin lag eine Gefahr. Einer ihrer früheren Mentoren hatte ihr in diesem Punkt einen guten und einfachen Rat gegeben: »Glauben Sie nicht, dass sich alles um Sie dreht.« Lucy versuchte, das nie zu vergessen. Andererseits mochten Studenten es nicht, wenn Professoren den Eindruck vermittelten, sie stünden über dem Ganzen. Wenn sie also gelegentlich eine Anekdote erzählte, achtete sie darauf, dass sie darin Mist gebaut hatte – davon gab es auch genug – und dass sie trotzdem gut aus der Sache herausgekommen war.
Ein weiteres Problem bestand darin, dass die Studenten nicht sagten, was sie wirklich dachten, sondern vielmehr das, womit sie Eindruck zu schinden glaubten. Das galt allerdings auch für ihre Kollegen in den Fachbereichssitzungen – das Wichtigste war immer, dass etwas gut klang, nicht dass man die Wahrheit sagte.
Aber in diesem Fall war Lucy etwas schärfer als üblich. Sie wollte Reaktionen sehen. Der Autor sollte sich offenbaren. Also machte sie Druck.
»Die Erlebnisberichte sollen auf Erinnerungen beruhen«, sagte sie. »Aber glaubt jemand, dass dies wirklich passiert ist?«
Plötzlich war es still im Seminar. Es gab ein paar unausgesprochene Regeln. Und im Prinzip hatte Lucy den Autor in den Ring gerufen und einen Lügner genannt. Sie ruderte zurück. »Damit will ich sagen, dass es sich wie Fiktion liest. Eigentlich ist das positiv, weil es für den Stil spricht, in diesem Fall scheint es mir dadurch aber unnötig kompliziert zu werden. Oder haben Sie die Wahrhaftigkeit des Erlebten nicht in Frage gestellt?«
Das führte zu einer lebhaften Diskussion. Hände schossen in die Höhe. Die Studenten versuchten, sich gegenseitig zu widerlegen.
Das war das Beste an ihrem Job. Ansonsten hatte ihr Leben nur wenig zu bieten. Aber sie liebte diese Kids. Und sie verliebte sich jedes Semester wieder aufs Neue. Die Studenten waren ihre Familie – entweder von September bis Dezember
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