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Grab im Wald

Grab im Wald

Titel: Grab im Wald Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Coben
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Großvater, meinem Popi, mit dem weißen Haarbüschel am Kopf vor Augen und vielleicht noch sein ausgelassenes Lachen im Ohr. Bei meiner Noni war es ähnlich, ich hatte einen vagen Eindruck und den Tonfall im Ohr, mit dem sie meinen Popi leise tadelte. Aber ich war erst drei Jahre alt gewesen, als die beiden abgeholt wurden. Erinnerte ich mich wirklich an sie, oder hatte das alte Foto mit der Zeit ein Eigenleben entwickelt? Waren die Bilder, die ich im Kopf hatte, echte Erinnerungen oder etwas, das ich mir aus den Erzählungen meiner Mutter zusammengesetzt hatte?
    »Deine Großeltern waren Intellektuelle – Professoren. Dein
Großvater war der Dekan der historischen Fakultät. Deine Großmutter war eine brillante Mathematikerin. Das weißt du, oder?«
    Ich nickte. »Meine Mutter hat immer gesagt, dass sie aus den Unterhaltungen beim Abendessen mehr gelernt hat als in der Schule.«
    Sosch lächelte. »Da könnte was Wahres dran sein. Die besten Akademiker haben sich um deine Großeltern geschart. Aber natürlich hat das die Aufmerksamkeit der Regierung geweckt. Sie wurden als Radikale abgestempelt. Als gefährliche Revisionisten. Erinnerst du dich noch daran, wie sie verhaftet worden sind?«
    »Ich erinnere mich vor allem«, sagte ich, »an die Folgen.«
    Er schloss einen Moment lang die Augen. »An das, was dann mit deiner Mutter passiert ist?«
    »Ja.«
    »Natascha ist nie wieder ganz die Alte geworden. Das ist dir doch klar?«
    »Ja.«
    »Da war er also – dein Vater. Er hatte so viel verloren – seinen Beruf, seine Reputation, seine Approbation und jetzt auch noch seine Schwiegereltern. Und plötzlich, obwohl er ganz unten war, hat die Regierung deinem Vater einen Ausweg aufgezeigt. Die Chance auf einen Neuanfang.«
    »Ein Leben in den USA.«
    »Genau.«
    »Und im Gegenzug musste er nur ein bisschen für sie spionieren?«
    Sosch winkte ab. »Du begreifst das nicht. Das ist ein riesiges Spiel gewesen. Was hätte ein Mann wie dein Vater schon herausfinden sollen? Selbst wenn er es versucht hätte – was er nicht getan hat. Welche Geheimnisse hätte er der Regierung verraten können?«

    »Und meine Mutter?«
    »Für die Regierung war Natascha nur eine Frau. An Frauen hatte sie kein Interesse. Sie war eine Weile ein Problem gewesen, aber eigentlich nur wegen ihrer Eltern, die, wie schon gesagt, in den Augen des Regimes Radikale waren. Du sagst, du erinnerst dich noch daran, wie sie damals festgenommen wurden?«
    »Ich glaube schon.«
    »Deine Großeltern hatten eine Gruppe gegründet und versucht, die Menschenrechtsverletzungen an die Öffentlichkeit zu bringen. Sie waren ziemlich weit gekommen, bis ein Verräter sie angezeigt hat. Die Militärpolizei ist nachts gekommen.«
    Er brach ab.
    »Was ist?«, fragte ich.
    »Es ist nicht leicht, über das zu reden, was sie mit ihnen gemacht haben.«
    Ich zuckte die Achseln. »Du kannst ihnen nicht mehr wehtun.«
    Er sagte nichts.
    »Was ist passiert, Sosch?«
    »Sie wurden in einen Gulag geschickt – ein Arbeitslager. Die Bedingungen waren furchtbar. Deine Großeltern waren nicht mehr jung. Du weißt, wie es zu Ende ging?«
    »Sie sind im Gulag gestorben«, sagte ich.
    Sosch wandte sich ab.
    Er ging zum Fenster. Er hatte einen fantastischen Blick über den Hudson. Im Hafen lagen zwei Mega-Kreuzfahrtschiffe. Und links sah man sogar die Freiheitsstatue. Manhattan ist so klein, nur dreizehn Kilometer lang, und genau wie bei Sosch spürt man immer, wie viel Kraft es ausstrahlt.
    »Sosch?«
    Als er fortfuhr, sprach er leise. »Weißt du, wie sie gestorben sind?«

    »Wie du es eben schon gesagt hast. Die Bedingungen waren furchtbar. Mein Großvater hatte ein schwaches Herz.«
    Er sah immer noch zum Fenster hinaus. »Die Regierung hat ihm die Behandlung verweigert. Er hat noch nicht einmal seine Medikamente bekommen. Er hat keine drei Monate überlebt.«
    Ich wartete.
    »Was verschweigst du mir, Sosch?«
    »Weißt du, was mit deiner Großmutter passiert ist?«
    »Ich weiß nur das, was meine Mutter mir erzählt hat.«
    »Erzähl’s mir.«
    »Noni ist auch krank geworden. Nach dem Tod ihres Mannes hat ihr Herz auch nicht mehr mitgespielt. Das kennt man ja von Ehepaaren, die lange verheiratet waren. Wenn einer stirbt, gibt der andere auf.«
    Er sagte nichts.
    »Sosch?«
    »In gewisser Weise«, sagte er, »ist das wohl wahr.«
    »In gewisser Weise?«
    Sosch sah weiter aus dem Fenster, fixierte irgendeinen fernen Punkt. »Deine Großmutter hat Selbstmord begangen.«
    Mein

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