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Grab im Wald

Grab im Wald

Titel: Grab im Wald Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Coben
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Körper erstarrte. Ich schüttelte den Kopf.
    »Sie hat sich mit einem Bettlaken erhängt.«
    Ich saß einfach reglos da. Ich dachte an das Bild von meiner Noni … an ihr wissendes Lächeln. Ich dachte an die Geschichten, die meine Mutter mir von ihr erzählt hatte, über ihren messerscharfen Verstand und ihre Schlagfertigkeit. Selbstmord.
    »Hat meine Mutter das gewusst?«, fragte ich.
    »Ja.«
    »Das hat sie mir nie erzählt.«
    »Und vielleicht hätte ich das auch nicht tun sollen.«
    »Und warum hast du es getan?«
    »Du musst begreifen, wie es damals gewesen ist. Deine Mutter war eine schöne Frau. So hübsch und zierlich. Dein Vater
hat sie angebetet. Aber nachdem ihre Eltern verhaftet und dann, na ja, im Prinzip ermordet worden waren, ist sie nie wieder die Alte geworden. Du hast das doch gespürt, oder? Sie war so oft melancholisch. Und zwar auch schon vor dem Tod deiner Schwester.«
    Ich antwortete nicht, hatte das aber tatsächlich gespürt.
    »Ich möchte, dass du verstehst, wie es damals gewesen ist«, sagte er. »Für deine Mutter. Vielleicht begreifst du dann mehr.«
    »Sosch?«
    Er wartete. Er sah immer noch aus dem Fenster.
    »Weißt du, wo meine Mutter ist?«
    Der kräftige Mann sagte lange nichts.
    »Sosch?«
    »Ich habe es gewusst«, sagte er. »Zu Anfang, als sie euch verlassen hat.«
    Ich schluckte. »Wohin ist sie gegangen?«
    »Natascha ist nach Hause gegangen.«
    »Das versteh ich nicht.«
    »Sie ist zurück nach Russland geflohen.«
    »Warum?«
    »Das kannst du ihr nicht vorwerfen, Pavel.«
    »Tu ich ja nicht. Ich will nur wissen warum.«
    »Man kann nicht einfach so seine Heimat verlassen, wie deine Eltern es getan haben. Man versucht, sich zu verändern. Man hasst die Regierung, aber nicht die Menschen. Deine Heimat bleibt deine Heimat. Und zwar für immer.«
    Er sah mich an. Unsere Blicke trafen sich.
    »Und deshalb hat sie uns verlassen?«
    Er sah mich schweigend an.
    »Das war ihre Begründung?« Ich schrie beinahe. Mein Blut geriet in Wallung. »Weil die Heimat immer die Heimat bleibt?«
    »Du hast mir nicht zugehört.«
    »Doch, Sosch, ich habe dir zugehört. Die Heimat bleibt immer
die Heimat. Das ist doch Blödsinn. Was ist mit ›Deine Familie bleibt immer deine Familie‹? Was mit ›Dein Mann bleibt immer dein Mann‹? – oder, um es auf den Punkt zu bringen, ›Dein Sohn bleibt immer dein Sohn‹?«
    Er antwortete nicht.
    »Was war mit uns, Sosch? Was war mit mir und Dad?«
    »Das kann ich dir nicht beantworten, Pavel.«
    »Weißt du, wo sie jetzt ist?«
    »Nein.«
    »Ist das wahr?«
    »Ja.«
    »Aber du könntest es herausbekommen, oder?«
    Er nickte nicht, schüttelte aber auch nicht den Kopf.
    »Du hast ein Kind«, sagte Sosch. »Und eine gute berufliche Laufbahn vor dir.«
    »Na und?«
    »Und das ist alles lange her. Die Vergangenheit gehört den Toten, Pavel. Man erweckt die Toten nicht wieder zum Leben. Man begräbt sie und lebt weiter.«
    »Meine Mutter ist nicht tot«, sagte ich. »Oder doch?«
    »Das weiß ich nicht.«
    »Und warum sprichst du dann von den Toten? Und, Sosch, wo wir gerade dabei sind, hier ist noch was, worüber du mal nachdenken kannst.« Ich konnte nicht an mich halten, also platzte ich einfach damit heraus: »Ich bin mir nicht mal mehr sicher, ob meine Schwester wirklich tot ist.«
    Ich hatte mit einem erschrockenen Blick gerechnet. Aber Sosch erschrak nicht. Er wirkte nicht einmal besonders überrascht.
    »Für dich«, sagte er.
    »Was ist für mich?«
    »Für dich«, setzte er noch einmal an, »sollten sie beide tot sein.«

11
    Ich versuchte, Onkel Soschs Worte abzuschütteln, als ich durch den Lincoln Tunnel zurück nach New Jersey fuhr. Ich musste mich auf zwei Dinge – und nur auf diese beiden Dinge – konzentrieren. Erstens: die Verurteilung der beiden Arschlöcher, die Chamique Johnson vergewaltigt hatten; zweitens: Ich musste herauskriegen, wo Gil Perez in den letzten zwanzig Jahren gesteckt hatte.
    Ich überprüfte die Adresse der Freundin, die Detective York mir gegeben hatte. Raya Singh arbeitete in einem indischen Restaurant namens Curry Up and Wait. Ich hasse Namen mit Wortspielen. Oder liebe ich sie? Wahrscheinlich liebe ich sie wohl eher.
    Ich war auf dem Weg dahin.
    Das Foto von meinem Vater lag noch auf dem Beifahrersitz. Die KGB-Anschuldigungen gegen ihn machten mir keine großen Sorgen. Damit hatte ich nach meiner Unterhaltung mit Sosch fast gerechnet. Aber jetzt las ich die Karteikarte noch einmal.
     
    DIE ERSTE

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