Grab im Wald
Cal. Und er heißt James.«
Flair Hickory trat näher an sie heran. Er sah jetzt besorgt aus, als wollte er ihr helfen. »Sind Sie ganz sicher, dass Sie sich das Ganze nicht nur eingebildet haben, Miss Johnson?«
Er klang wie einer von diesen Ratgebern für pubertierende Jugendliche bei MTV.
Sie wischte sich übers Gesicht. »Ja, Mr Hickory. Ich bin mir sicher. Verdammt sicher.«
Aber Flair ließ sich nicht einschüchtern.
»Ich will ja gar nicht behaupten, dass Sie lügen«, fuhr er fort, und ich verkniff mir meinen Einspruch, »aber besteht nicht vielleicht
die Möglichkeit, dass Sie zu viel Punsch getrunken hatten – was natürlich nicht Ihre Schuld war, da Sie ja dachten, er wäre alkoholfrei –, daraufhin einvernehmlichem Geschlechtsverkehr zugestimmt haben und dann einen Flashback zu einem anderen Zeitpunkt gehabt haben? Wäre das nicht eine Erklärung für Ihre Behauptung, dass die beiden Männer, die Sie vergewaltigt haben, Jim und Cal hießen?«
Ich war aufgesprungen und wollte sagen, dass das zwei Fragen sind, aber wieder wusste Flair ganz genau, was er tat.
»Ich ziehe die Frage zurück«, sagte Flair Hickory, als wäre die ganze Geschichte einfach nur ein Trauerspiel für alle beteiligten Parteien. »Ich habe keine weiteren Fragen.«
13
Während Lucy auf Sylvia Potter wartete, suchte sie den Namen aus Iras Besucherliste im Internet: Manolo Santiago. Es gab viele Treffer, aber keinen, der sie irgendwie weiterbrachte. Er war wohl kein Reporter – zumindest hatte sie keinen Treffer, der darauf hindeutete. Wer war er also? Und warum hatte er ihren Vater besucht?
Sie konnte natürlich Ira fragen. Falls der sich an ihn erinnerte.
Zwei Stunden vergingen. Dann drei und dann vier. Sie rief in Sylvias Zimmer an. Es meldete sich niemand. Sie schickte noch eine E-Mail auf Sylvias BlackBerry. Keine Antwort.
Das gefiel ihr nicht.
Woher um alles in der Welt kannte Sylvia Potter Lucys Vergangenheit?
Lucy sah im Studentenverzeichnis nach. Sylvia Potter wohnte in Stone House an der Plaza der Universität. Lucy beschloss, hinüberzugehen und nachzusehen, was dort los war.
Ein Universitäts-Campus hat einen ganz eigenen Charme. Kein Wohnort ist besser geschützt und besser abgeschirmt, und obwohl es leicht war, sich darüber zu beklagen, sollte es doch genauso sein. Manche Dinge entwickelten sich einfach besser in so einem Vakuum. Die Universität war ein Ort, an dem junge Menschen sich sicher fühlten – aber wenn man älter wurde, wie sie oder Lonnie, wurde sie immer mehr zu einem Versteck.
Stone House war früher das Verbindungshaus von Psi Epsilon gewesen. Die Reston University hatte studentische Verbindungen vor zehn Jahren verboten, weil sie »anti-intellektuell« seien. Obwohl Lucy die Ansicht teilte, dass Verbindungen viele negative Eigenschaften hatten und oft auch der Reputation einer Universität abträglich waren, erschien ihr ein Verbot doch etwas plump und auch ein bisschen zu faschistisch. Ein paar Burschenschaftler aus einer nahegelegenen Universität standen gerade wegen einer Vergewaltigung in einem Verbindungshaus vor Gericht. Aber ohne Verbindungen wäre das halt in einer Lacrosse-Mannschaft, mit einer Gruppe Bauarbeiter in einem Strip-Club oder mit ein paar rüden Rockern in einer Kneipe passiert. Sie hatte auch kein Patentrezept, war aber davon überzeugt, dass die Lösung nicht darin bestand, sämtliche Institutionen abzuschaffen, die einem nicht in den Kram passten.
Bekämpft das Verbrechen, nicht die Freiheit, dachte sie.
Von außen war das Gebäude noch der alte beeindruckende georgianische Backsteinbau. Innen hatte man es all seiner Eigenarten beraubt. Die schweren Wandteppiche und Mahagoni-Vertäfelungen aus seiner geschichtsträchtigen Vergangenheit waren durch neutrale Farben und unaufdringliche Pastelltöne ersetzt worden. Jammerschade.
Studenten schlenderten umher. Als sie das Haus betrat, wurde sie mit ein paar kritischen Blicken bedacht, allzu viele waren es allerdings nicht. Stereoanlagen – oder vermutlich eher iPod-Lautsprechersysteme – lärmten. Viele Türen standen offen. An
einigen Wänden hingen Che-Guevara-Poster. Vielleicht war sie ihrem Vater ähnlicher, als sie gedacht hatte. Auch die große Zeit der Universitäts-Campusse hatte in den Sechzigern des letzten Jahrhunderts begonnen. Stil und Musik hatten sich zwar geändert, das Lebensgefühl war aber noch das gleiche wie früher.
Sie ging die Haupttreppe hinauf. Auch die hatte mit dem Umbau ihr
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