Grab im Wald
Flair verloren. Sylvia Potter wohnte im ersten Stock in einem Einzelzimmer. Lucy kam an ihre Tür. Daran war eine Notiztafel angebracht, auf der man mit dem daneben hängenden Marker Nachrichten hinterlassen konnte. Sie war aber picobello sauber. Die Notiztafel hing absolut gerade und genau in der Mitte. Oben stand in einer Schrift, die fast wie professionelle Kalligraphie aussah »Sylvia«. Daneben hatte jemand eine rosafarbene Blume gemalt. Das Ganze passte absolut nicht hierher, die Tür schien aus einer anderen Ära zu stammen und keinerlei Verbindung zu ihrer Umgebung zu haben.
Lucy klopfte. Keine Antwort. Sie drehte den Knauf. Verschlossen. Sie überlegte, ob sie eine Nachricht hinterlassen sollte – dafür war diese Tafel schließlich da –, wollte sie aber nicht ruinieren. Außerdem befürchtete sie, dass ihr Verhalten sehr verzweifelt wirkte. Sie hatte schon angerufen und eine E-Mail geschickt. Wenn sie noch vorbeischaute, ging das wohl mindestens einen Schritt zu weit.
Sie war fast am Ausgang, als die Tür vor ihr geöffnet wurde. Sylvia Potter kam herein. Als sie Lucy sah, erstarrte sie. Lucy ging die letzten Stufen hinunter und blieb vor Sylvia stehen. Sie sagte nichts und versuchte, der Studentin in die Augen zu sehen. Sylvia wich Lucys Blick konsequent aus.
»Oh, hi, Frau Professor Gold.«
Lucy schwieg.
»Das Seminar hat länger gedauert, tut mir wirklich leid. Und dann musste ich noch das andere Projekt für morgen vorbereiten. Also hab ich mir gedacht, es ist ja schon spät, und Sie
sind sowieso schon weg, und das hat bestimmt auch bis morgen Zeit.«
Sie plapperte irgendetwas vor sich hin. Lucy ließ sie gewähren.
»Soll ich morgen bei Ihnen vorbeikommen?«, fragte Sylvia.
»Haben Sie jetzt Zeit?«
Sylvia guckte auf die Uhr, ohne wirklich hinzusehen. »Dieses Projekt macht mich wirklich ganz wuschig. Hat das nicht bis morgen Zeit?«
»Für wen machen Sie das denn?«
»Was?«
»Für welchen Professor machen Sie das Projekt, Sylvia? Falls ich zu viel von Ihrer Zeit in Anspruch nehme, kann ich Ihnen vielleicht ein Schreiben für ihn mitgeben.«
Schweigen.
»Wir können in Ihr Zimmer gehen«, sagte Lucy, »und uns hier unterhalten.«
Endlich sah Sylvia sie an. »Frau Professor Gold?«
Lucy wartete.
»Ich glaube, ich will nicht mit Ihnen reden.«
»Es geht um Ihren Bericht.«
»Meinen …?« Sie schüttelte den Kopf. »Aber den hab ich doch anonym geschickt. Woher wollen Sie wissen, dass es meiner ist?«
»Sylvia …«
»Sie haben es gesagt! Sie haben es versprochen! Dass die anonym sind. Das haben Sie gesagt.«
»Ich weiß, was ich gesagt habe.«
»Wie sind Sie …?« Sylvia richtete sich auf. »Ich will nicht mit Ihnen reden.«
Lucy sagte mit fester Stimme: »Das müssen Sie aber.«
Aber Sylvia ließ sich nicht einschüchtern. »Nein, das muss ich nicht. Sie können mich nicht dazu zwingen. Und … mein
Gott, wie konnten Sie so was tun? Uns erzählen, dass es anonym und vertraulich ist, und dann … ?«
»Es ist wirklich wichtig.«
»Nein, für mich nicht. Ich muss nicht mit Ihnen reden. Und wenn Sie irgendwas davon erzählen, geh ich zum Dekan und erzähl ihm, was Sie gemacht haben. Dann werden Sie gefeuert.«
Andere Studenten starrten sie an. Lucy hatte die Situation nicht mehr unter Kontrolle. »Bitte, Sylvia, ich muss wissen …«
»Kein Wort!«
»Sylvia …«
»Ich muss Ihnen gar nichts sagen. Lassen Sie mich in Ruhe!«
Sylvia Potter drehte sich um, öffnete die Tür und rannte weg.
14
Nachdem Flair Hickory mit Chamique fertig war, traf ich mich mit Loren Muse in meinem Büro.
»Wow«, sagte Loren. »Das ist ja echt Scheiße gelaufen.«
»Kümmern Sie sich um die Sache mit den Namen.«
»Welche Sache mit den Namen?«
»Stellen Sie fest, ob irgendjemand Broodway ›Jim‹ genannt hat, oder ob er, wie Chamique behauptet, James genannt wird.«
Muse runzelte die Stirn.
»Was ist?«
»Denken Sie, das nützt was?«
»Es kann nicht schaden.«
»Sie glauben ihr immer noch?«
»Ach kommen Sie, Muse. Das ist doch nur heiße Luft.«
»Aber wirkungsvoll.«
»Hat Ihre Freundin Cingle irgendwas erfahren?«
»Noch nicht.«
Gott sei Dank war der Verhandlungstag zu Ende. Flair hatte mir die Zähne gezogen. Ich weiß, dass es um Gerechtigkeit gehen soll und sonst nichts, und dass eine Verhandlung kein Schönheitswettbewerb oder so etwas ist, aber bleiben wir realistisch.
Cal und Jim waren wieder da und größer und stärker denn je.
Mein Handy klingelte.
Weitere Kostenlose Bücher