Grabesdunkel
mir gesprochen hast. Ich entscheide, wann du das tust.«
»Wie meinst du das?«
»Ich kann jetzt nicht weiterreden. Aber versprichst du es mir?«
»Ja, ja, versprochen.«
Das Gespräch brach ab. Ester hatte aufgelegt, oder der Akku war leer. Agnes versuchte, sie zurückzurufen, doch der Teilnehmer war nicht zu erreichen.
Kapitel 19
Freitag, 6. Mai
Schon frühmorgens versuchte Agnes Ester auf ihrem Handy zu erreichen, doch sie meldete sich nicht. Agnes würde sich später darum kümmern müssen. Um zehn Uhr war sie erst einmal mit Hilde Hartmann verabredet. Für diesen Auftrag brauchte sie keinen Fotografen â Hartmann hatte noch gar nicht entschieden, ob sie mit ihrer Version der ganzen Angelegenheit an die Presse gehen wollte. Bei diesem Besuch ging es lediglich darum, sie zu überzeugen. Agnes bestellte sich ein Taxi und lieà sich zu Hilde Hartmanns Haus drauÃen in Kolbotn fahren.
Von der StraÃe aus konnte Agnes durchs Küchenfenster Hilde Hartmanns Gestalt erahnen. Das Haus selbst sah aus wie ein rot angestrichenes Ferienhaus mit einem spitzen Dach und kleinen Sprossenfenstern. Im Garten gab es einen Sandkasten und ein Klettergerüst, und auf dem nassen Asphalt waren noch Reste von Kreide zu erkennen. Hilde Hartmann und ihr Mann hatten Kinder, zwei Mädchen, Zwillinge, im Alter von sechs Jahren. Um diese Zeit waren sie bestimmt in der Schule. Es roch nach Waffeln, als Agnes die kleine Diele betrat. Sie wurde gebeten, sich ins Wohnzimmer zu setzen, wo der Tisch bereits mit einem antiken Porzellanservice gedeckt war. Kurz darauf standen Kaffeekanne und Marmelade vor ihr.
»Bedienen Sie sich«, sagte Hilde Hartmann und reichte ihr den Teller mit Waffeln.
Ihre Kleidung machte sie älter, als sie in Wirklichkeit war. Die Bluse war aus blauer Seide und bis oben zugeknöpft. Hartmann schien etwas demonstrieren zu wollen. Reinheit, Tugendhaftigkeit. Es war nur schwer vorstellbar, dass Hilde Hartmann für wen auch immer zu radikal gewesen sein sollte.
»Ich habe lange darüber nachgedacht«, begann sie. »Mehrere Verlage haben bei mir angefragt. Aber eine Abrechnung in Buchform schaffe ich einfach nicht. Das dauert zu lange.«
»Zu lange?«, fragte Agnes. Es war schlieÃlich bereits eine Weile her, dass Hilde Hartmann aus der Partei ausgeschlossen worden war. Was hatte sie zu verlieren, wenn sie sich Zeit lieÃ?
Hilde Hartmann lächelte, während sie Kaffee einschenkte. Irgendetwas war falsch an ihrem Lächeln, es erreichte nicht ihre irisblauen Augen.
»Ich will, dass diese Sache hochgeht wie eine Bombe. Unmittelbar vor der Wahl.«
Agnes nickte. Die Kraft der Rache wurde oft unterschätzt. Hilde Hartmanns Stimme klang kalt und beherrscht.
»So machen wir das. Ich erzähle Ihnen jetzt die Geschichte. Sie können sich zwischendurch Notizen machen. Später schreiben Sie einen Entwurf, den ich gegenlese. Wenn wir beide mit dem Artikel zufrieden sind, lassen wir ihn bis zur Endphase des Wahlkampfes liegen. Er wird erst gedruckt, wenn ich Ihnen grünes Licht gebe.«
Agnes hatte persönlich nur wenig Sympathie für die Christliche Volkspartei. Hätte sie sich auch auf so ein Spiel eingelassen, wenn es sich gegen eine Partei gerichtet hätte, mit der sie sympathisierte? Sie wusste es nicht. Doch ihr war klar, dass sie nach Hilde Hartmanns Regeln spielen musste, wenn die Sache nicht bei VG oder Dagbladet landen sollte.
»Sie denken vielleicht, dass es hier um meine liberale Einstellung Homosexuellen gegenüber geht?«
Agnes nickte.
»Das stimmt nur teilweise. Mein kleiner Bruder David und ich sind quasi in der Partei groà geworden. Unsere Eltern gehören dem ultrakonservativen Flügel der Christlichen Volkspartei an. David hat bis zum Winter als IT-Berater für das Parteibüro der Christlichen Volkspartei gearbeitet.«
Hilde Hartmann setzte den Teller ab und wischte sich mit dem rechten Zeigefinger etwas Marmelade aus dem Mundwinkel.
»Einar Rådal hat herausgefunden, dass David ein heimliches homosexuelles Verhältnis hatte. Man hat David einen Tag gegeben, um im Büro seine Sachen zu packen. Die Vorgehensweise war unter aller Kritik, doch am schlimmsten war, dass Einar Rådal unsere Eltern kontaktiert und ihnen alles erzählt hat.«
Hilde Hartmanns Gesichtsausdruck veränderte sich. Die Wangen wurden schmal, als würde sie von innen hineinbeiÃen. Ihr
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