Grabesdunkel
vermochte nicht zu antworten. Sie sah plötzlich erschreckend kraftlos aus und griff sich mit beiden Händen an die Brust. Ihr Atem wurde schneller, sie rang nach Luft.
Agnes erfasste die Situation, griff Ester fest an den Schultern und führte sie zur nächsten Bank.
»Ganz ruhig atmen«, sagte sie und hielt sie weiter fest.
Ester hustete heftig. »Ich bekomme keine Luft«, keuchte sie und fasste sich an den Hals.
»Wir fahren zum ärztlichen Notdienst«, schlug Agnes vor.
Ester schüttelte entschlossen den Kopf. Allmählich beruhigte sie sich, und nach fünf Minuten nahm ihr Gesicht langsam wieder Farbe an. Um sie herum war es still. Nur ihr Atem war zu hören.
»Hast du früher schon einmal solche Panikattacken bekommen?«, fragte Agnes.
Ein Kopfschütteln war die Antwort.
»Soll ich dich irgendwohin bringen?«
»Nein, ich bin noch verabredet.« Ester atmete tief durch. »Hast du schon mal was von dem âºKreisâ¹ gehört?«
»Nein, was ist das?«
Ihre Stimme war nicht mehr als ein Flüstern, als sie antwortete: »Da solltest du anfangen zu suchen.«
Kapitel 18
Das Treffen mit Ester hatte Agnes einige Arbeitsstunden gekostet, die es jetzt wieder hereinzuholen galt. Sie sollte einen Artikel über die neue Initiative der Christlichen Volkspartei gegen die Prostitution schreiben, und nachdem sie sich von Ester verabschiedet hatte, fuhr sie zurück zu Nyhetsavisen, lieferte das Auto ab und spazierte Richtung Storting, dem norwegischen Parlament. An diesem Tag gab es einen Engpass bei den Fotografen, weshalb sie vereinbart hatten, dass die Bildredaktion erst zum Ende des Interviews einen Fotografen schicken und Agnes schon mal anfangen sollte.
Terje Ãstby war offensichtlich wieder ganz er selbst. Er drückte ihr die Hand und entschuldigte sich, dass er das letzte Interview aufgrund eines »Unwohlseins«, wie er es nannte, hatte abbrechen müssen. AuÃer dem Vorsitzenden der Christlichen Volkspartei, Terje Ãstby, und dem Zweiten Vorsitzenden, Einar RÃ¥dal, war noch Karin Sterner anwesend, die politische Beraterin.
Einar RÃ¥dal hatte eine wichtige Position innerhalb der Partei. Er war sehr viel älter und erfahrener als Ãstby. Nicht wenige vertraten die Meinung, dass RÃ¥dal den Kurs der Partei steuerte und Ãstby eigentlich nur tat, was man ihm sagte. Gerüchteweise war sogar von einem Coup die Rede: Angeblich war RÃ¥dal bereit, die Parteiführung zu übernehmen, sobald Ãstby gestürzt war. Ein kleiner Fehltritt, mehr bedurfte es nicht.
»Das gesetzliche Verbot der StraÃenprostitution hat dazu geführt, dass die Gesellschaft die Prostitution nicht mehr sieht . Es hat aber nicht den Mädchen geholfen, die sich verkaufen«, sagte Ãstby. Seine Stellungnahmen hatten die professionelle, mechanische Vorausschaubarkeit derer, die zu viele Interviews gegeben und zu viele Vorträge gehalten hatten. Doch er hatte sanfte Augen und schien sehr viel diplomatischer zu sein als Einar RÃ¥dal.
Der wirkte in Gegenwart der Presse immer verkrampft und unbeugsam. Viele vertraten die Meinung, dass nicht zuletzt sein Verhalten dafür verantwortlich war, dass die Christliche Volkspartei bei den Meinungsumfragen vor den Wahlen so schlecht abgeschnitten hatte. Vor einigen Monaten war RÃ¥dal die treibende Kraft gewesen, als es darum gegangen war, Hilde Hartmann aus der Partei auszuschlieÃen.
Hartmann war Mitte dreiÃig und hatte in den Jahren ihrer Parteizugehörigkeit dazu beigetragen, die konservative und von Männern dominierte Organisation zu modernisieren. Sie lächelte stets und stellte nur einigermaÃen verträgliche politische Forderungen, die weder bei den Radikalen noch bei den Konservativen zu stärkeren Protesten führten (stärkere Investitionen beim Kinderschutz, Hilfe für ältere Menschen und Alleinerziehende, mehr soziale Betreuung im Strafvollzug).
Doch in diesem Frühjahr war etwas passiert. Offiziell hieà es, dass Hilde Hartmann politikmüde sei. Doch diejenigen, die die innersten Kreise der Partei kannten, erahnten einen anderen plausiblen Grund. Hilde Hartmann hatte begonnen, sich in der Homosexuellenfrage uneindeutig zu äuÃern. Die Christliche Volkspartei hatte eine gnadenlose Geschichte, wenn es darum ging, Mitglieder loszuwerden, die abweichende Auffassungen zu den Kernwerten der Gesellschaft vertraten. Dies galt besonders für die
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