Grabesgrün
auch eine Begleiterscheinung der Migräne selbst sein könnte, verdrängte ich. Gegen sieben schlief ich endlich ein, kurz bevor mein Wecker losging.
Als ich vor Cassies Haus hupte, kam sie in ihrem einzigen seriösen Outfit angelaufen – ein schicker Chanel-Hosenanzug, schwarz mit rosa Futter, und die Perlenohrringe von ihrer Großmutter – und sprang mit, wie ich fand, unnötiger Energie ins Auto, obwohl sie es vermutlich nur eilig hatte, aus dem Regen zu kommen. »Hi, du«, sagte sie. Sie war geschminkt und wirkte dadurch älter und eleganter, fremd. »Nicht geschlafen?«
»Nicht viel. Hast du deine Notizen mit?«
»Ja. Du kannst einen Blick reinwerfen, während ich drin bin – oder bist du als Erster dran?«
»Ich weiß nicht mehr. Fährst du? Ich muss deine Notizen überfliegen.«
»Ich kann mit der Karre nicht umgehen«, sagte sie mit einem verächtlichen Rundumblick durchs Wageninnere.
»Hauptsache, du überfährst keinen«, sagte ich, kletterte benebelt aus dem Wagen und ging durch den strömenden Regen auf die Beifahrerseite, während Cassie die Achseln zuckte und rüber auf den Fahrersitz rutschte. Sie hat eine hübsche Schrift – irgendwie leicht fremdländisch wirkend, aber entschlossen und klar –, und ich bin an sie gewöhnt, aber so müde und verkatert, wie ich war, sahen ihre Notizen nicht einmal wie Wörter aus. Ich konnte nur willkürliche, nicht zu entziffernde Schnörkel sehen, die sich vor meinen Augen immerzu neu ordneten, wie ein bizarrer Rorschachtest. Schließlich schlief ich ein, und mein Kopf vibrierte sachte an der kühlen Scheibe des Seitenfensters.
Natürlich wurde ich als Erster in den Zeugenstand gerufen. Ich möchte es mir wirklich ersparen, im Einzelnen aufzuzählen, womit ich mich alles blamierte: Ich habe gestammelt, Namen verwechselt, die zeitlichen Abläufe durcheinandergebracht, und ich musste mich von Anfang an berichtigen. Der Staatsanwalt, MacSharry, blickte zunächst verwirrt (wir kannten uns eine Weile, und normalerweise bin ich ganz gut im Zeugenstand), dann beunruhigt und schließlich wütend hinter der eleganten Fassade. Er hatte ein Foto von Philomena Kavanaghs Leiche extrem vergrößern lassen – ein Standardtrick, um die Geschworenen zu schocken und in ihnen das Bedürfnis zu wecken, jemanden zu bestrafen –, und ich sollte jede Verletzung zeigen und mit dem Geständnis der Angeklagten abgleichen (anscheinend hatten sie tatsächlich gestanden). Aber aus irgendeinem Grund gab mir das den Rest. Ich verlor gänzlich die Fassung: Jedes Mal, wenn ich aufblickte, sah ich sie vor mir, schwer und misshandelt, den Rock bis über die Taille hochgeschoben, den Mund geöffnet, um mir mit einem machtlosen Schrei vorzuwerfen, ich hätte sie im Stich gelassen.
Im Gerichtssaal war es wie in der Sauna, Dampf von trocknenden Mänteln ließ die Fenster beschlagen. Meine Kopfhaut juckte vor Hitze, und ich spürte, wie mir Schweißtropfen die Rippen hinabglitten. Als der Verteidiger mit dem Kreuzverhör fertig war, spiegelte sich in seinem Gesicht eine ungläubige, fast unanständige Häme, wie bei einem Teenager, der es geschafft hat, ein Mädchen ins Bett zu kriegen, wo er sich höchstens einen Kuss erhofft hatte. Selbst die Geschworenen, die hin und her rutschten und sich gegenseitig unverhohlene Seitenblicke zuwarfen, waren anscheinend peinlich berührt.
Am ganzen Körper zitternd verließ ich den Zeugenstand. Meine Beine fühlten sich an wie Gummi, und eine Sekunde lang dachte ich, ich müsste mich an einem Geländer festhalten, um nicht hinzufallen. Nach ihrer Aussage dürfen Zeugen als Zuschauer den Prozess verfolgen, und Cassie wäre sicher überrascht, mich nicht zu sehen, aber ich konnte es einfach nicht. Sie brauchte keine moralische Unterstützung: Sie würde ihre Sache gut machen, und auch wenn es sich kindisch anhört, aber bei dem Gedanken fühlte ich mich noch schlechter. Ich wusste, dass der Fall Katy Devlin sie belastete, genau wie Sam auch, aber die beiden kamen anscheinend ohne große Anstrengung wunderbar zurecht. Nur ich zuckte und lallte und erschrak vor Schatten wie ein Nebendarsteller in Einer flog übers Kuckucksnest. Ich hätte es nicht ertragen, im Saal zu bleiben und zuzusehen, wie Cassie nüchtern den Schlamassel wieder in Ordnung brachte, nachdem ich sieben Monate Arbeit in den Sand gesetzt hatte.
Es regnete noch immer. Ich ging in einen schmuddeligen, kleinen Pub in einer Seitenstraße – drei Typen an einem Ecktisch erkannten mich mit
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