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Grabesgrün

Grabesgrün

Titel: Grabesgrün Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tana French
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Glück«, sagte meine Mutter und seufzte. »Ich glaube, ich hab mir das nie verziehen, dass ich den Kontakt zu Alicia verloren habe. Sie hatte doch sonst niemanden. Sie war so eine liebe junge Frau, richtig unschuldig. Sie hoffte noch immer, dass Jamies Vater seine Frau verlassen würde, nach all der Zeit, und sie eine Familie sein würden ... Hat sie je geheiratet?«
    »Nein. Aber sie macht eigentlich keinen unglücklichen Eindruck. Sie unterrichtet Yoga.« Das Spülwasser war lauwarm und klamm geworden. Ich nahm den Wasserkessel und goss heißes nach.
    »Das ist ein Grund, warum wir weggezogen sind, weißt du«, sagte meine Mutter. Sie hatte mir den Rücken zugedreht und sortierte Besteck in eine Schublade. »Ich konnte ihnen nicht mehr in die Augen sehen – Alicia und Angela und Joseph. Ich hatte meinen Sohn wohlbehalten zurück, und sie machten die Hölle durch ... Ich hab mich kaum noch aus dem Haus getraut, aus Angst, ihnen über den Weg zu laufen. Ich weiß, es klingt verrückt, aber ich hatte Schuldgefühle. Ich dachte, sie müssten mich dafür hassen, dass ich dich zurückbekommen hatte. Das wäre doch verständlich gewesen.«
    Ich war sprachlos. Ich nehme an, alle Kinder sind egozentrisch. Ich wäre jedenfalls nie auf die Idee gekommen, dass der Umzug nicht allein in meinem Interesse erfolgt war. »Darüber hab ich mir nie Gedanken gemacht«, sagte ich. »Selbstsüchtig, wie ich war.«
    »Du warst ein kleiner Sonnenschein«, sagte meine Mutter unerwartet. »Das liebste Kind auf Erden. Wenn du aus der Schule kamst oder vom Spielen, hast du mich immer ganz fest gedrückt und mir einen dicken Kuss gegeben, auch als du schon fast so groß warst wie ich, und gesagt: ›Hast du mich vermisst, Mummy?‹ Und oft hast du mir was mitgebracht, einen hübschen Stein oder eine Blume. Das meiste davon hab ich aufbewahrt.«
    »Ich?« Ich war froh, dass Cassie nicht dabei war. Ich konnte förmlich das verschmitzte Glimmen in ihren Augen sehen, wenn sie das gehört hätte.
    »Ja, du. Deshalb war ich doch an dem Tag so besorgt, als wir dich nicht finden konnten.« Plötzlich drückte sie kurz meinen Arm, fast schmerzhaft. Noch nach all den Jahren hörte ich die Anspannung in ihrer Stimme. »Ich hatte panische Angst, weißt du. Alle haben gesagt: ›Die sind bestimmt nur von zu Hause ausgerissen, das machen Kinder schon mal, wir finden sie im Nu wieder ...‹ Aber ich hab gesagt: ›Nein. Nicht Adam.‹ Du warst ein braver Junge, freundlich. Ich wusste, du würdest uns so was nicht antun.«
    Als ich den Namen aus ihrem Munde hörte, durchzuckte mich etwas, schnell und primitiv und gefährlich. »Ich hab mich gar nicht als besonders artig in Erinnerung«, sagte ich.
    Meine Mutter lächelte zum Küchenfenster hinaus. Der abwesende Ausdruck in ihrem Gesicht, während sie sich an Dinge erinnerte, die aus meinem Gedächtnis gelöscht waren, machte mich nervös. »Ach, nicht artig. Aber rücksichtsvoll. Du bist in dem Jahr reifer geworden. Hast Peter und Jamie dazu gebracht, nicht länger den armen kleinen Jungen zu schikanieren, wie hieß er noch? Der mit der Brille und der schrecklichen Mummy, die die Blumengestecke für die Kirche machte?«
    »Willy Little?«, sagte ich. »Das war nicht ich, das war Peter. Ich hätte ihn am liebsten bis in alle Ewigkeit weiterschikaniert.«
    »Nein, das warst du«, sagte meine Mutter mit Bestimmtheit. »Ihr drei habt den armen Jungen immer gehänselt, bis er geweint hat, und irgendwann hast du das ganz schlimm gefunden und beschlossen, ihr solltet ihn in Ruhe lassen. Du hattest Sorge, Peter und Jamie würden das nicht verstehen. Weißt du nicht mehr?«
    »Eigentlich nicht«, sagte ich. Genau das wurmte mich an diesem ganzen unangenehmen Gespräch am meisten. Man sollte meinen, ihre Version der Geschichte wäre mir lieber gewesen als meine, aber so war es nicht. Natürlich war es durchaus möglich, dass sie mir im Nachhinein unbewusst die Heldenrolle zugeschustert hatte oder dass ich sie damals angelogen hatte. Aber im Laufe der letzten paar Wochen hatte ich angefangen, mir meine Erinnerungen als verlässliche, glänzende kleine Dinge vorzustellen, die es aufzuspüren und wie einen Schatz zu bewahren galt, und ich fand den Gedanken zutiefst beunruhigend, sie könnten Katzengold sein, trügerisch und nebulös und gar nicht das, was sie zu sein schienen. »Wenn es nichts mehr zu spülen gibt, geh ich vielleicht mal rüber und unterhalte mich ein bisschen mit Dad.«
    »Da freut er sich. Geh ruhig

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