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Grabesgrün

Grabesgrün

Titel: Grabesgrün Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tana French
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wedelte damit, um sie zu trocknen. »Ich könnte dir bei der Vorbereitung helfen. Deine Notizen mit dir durchgehen oder so.«
    »Nein, danke.« Ehrlich gesagt, ich hatte meine Notizen nicht mal da. Sie lagen auf meinem Schreibtisch im Büro. Ich überlegte, ob ich rasch hinfahren und sie holen sollte, aber ich war bestimmt noch über der Promillegrenze.
    »Oh ... na gut. Dann eben nicht.« Heather pustete auf ihre Nägel und beäugte mein Sandwich. »Ach, warst du einkaufen? Du bist nämlich dran mit Klopapier.«
    »Ich geh morgen«, sagte ich, nahm mein Handy und mein Sandwich, um in mein Zimmer zu gehen.
    »Na gut. Bis morgen reicht’s ja noch. Ist das mein Käse?«

    Ich flüchtete vor Heather und aß mein Sandwich, was die Wirkung des Guinness jedoch in keiner Weise linderte. Dann goss ich mir einen Wodka Tonic ein und legte mich aufs Bett, um den Kavanagh-Fall noch einmal im Kopf durchzugehen.
    Ich konnte mich nicht konzentrieren. Sämtliche Randdetails sprangen mir in den Sinn, prompt, deutlich, nutzlos – das flackernde rote Licht der Herz-Jesu-Statue im dunklen Wohnzimmer des Opfers, die strähnigen Haare der beiden jugendlichen Täter, das schreckliche, blutverkrustete Loch im Kopf des Opfers, die feuchtfleckige Blümchentapete in der Pension, wo Cassie und ich uns einquartiert hatten –, aber ich konnte mich an keinen einzigen wichtigen Tatbestand erinnern: wie wir die Verdächtigen aufgespürt hatten oder ob sie gestanden hatten oder was sie gestohlen hatten, nicht mal an ihre Namen. Ich stand auf und tigerte im Zimmer herum, steckte den Kopf zum Fenster hinaus in die kalte Luft, aber je angestrengter ich versuchte, mich zu konzentrieren, desto weniger gelang es mir. Nach einer Weile wusste ich nicht mal mehr mit Sicherheit, ob das Opfer Philomena oder Fionnuala hieß, obwohl ich das noch zwei Stunden zuvor spontan hätte sagen können (Philomena Mary Bridget).
    Ich war fassungslos. So etwas war mir noch nie passiert. Ich kann ohne Übertreibung von mir behaupten, dass ich ansonsten absurderweise ein gutes Gedächtnis habe und große Mengen Informationen mühelos wieder aufrufen kann, auch ohne unbedingt alles verstanden zu haben. Nur so hab ich beispielsweise das Abitur bestanden, und deshalb hatte es mich auch nicht sonderlich nervös gemacht, als ich merkte, dass meine Notizen im Büro lagen. Ich hatte sie schon vorher das eine oder andere Mal vergessen und war trotzdem nie in Verlegenheit geraten.
    Und ich versuchte auch nichts besonders Ungewöhnliches. Im Morddezernat ist es ganz normal, an drei oder vier Ermittlungen gleichzeitig zu arbeiten. Wenn du mit einem Kindesmord oder einem toten Polizisten oder einem ähnlich vorrangigen Fall betraut wirst, kannst du deine laufenden Fälle abgeben, so wie wir Quigley und McCann die Taxistandsache angedreht hatten, aber du hast weiterhin mit den Folgen der abgeschlossenen Fälle zu tun: Papierkram, Besprechungen mit Staatsanwälten, Gerichtstermine. Du entwickelst ein Geschick darin, alle wichtigen Punkte im Hinterkopf abzuspeichern, um sie im Bedarfsfall blitzschnell wieder aufzurufen. Die entscheidenden Fakten im Kavanagh-Fall hätten eigentlich da sein müssen, und dass dem nicht so war, löste in mir eine lautlose, animalische Panik aus.
    Gegen zwei Uhr morgens war ich überzeugt, dass sich am nächsten Morgen schon alles einrenken würde, wenn ich nur ordentlich durchschlafen könnte. Ich trank noch einen Wodka und machte das Licht aus, aber jedes Mal, wenn ich die Augen schloss, schwirrten mir die immer gleichen Bilder durch den Kopf – Herz-Jesu, die ungewaschenen Täter, Kopfwunde, schmuddelige Pension ... Gegen vier wurde mir klar, wie bescheuert ich gewesen war, meine Notizen nicht geholt zu haben. Ich schaltete das Licht an und tastete blind nach meinen Sachen, aber als ich mir die Schuhe zuband, bemerkte ich meine zitternden Hände, und mir fiel der Wodka wieder ein. Ich war wahrhaftig nicht in der Verfassung, mich bei einer Alkoholkontrolle rauszureden, und außerdem war ich viel zu benommen, um mich auf meine Notizen zu konzentrieren, selbst wenn ich sie hätte.
    Ich legte mich wieder hin und starrte weiter an die Decke. Heather und der Typ von nebenan schnarchten rhythmisch. Dann und wann fuhr ein Auto vorbei, und gräuliche Scheinwerferbögen huschten über die Wände. Nach einer Weile fielen mir meine Migränetabletten ein, und ich nahm zwei davon, weil sie mich normalerweise regelrecht betäuben. Die Möglichkeit, dass diese Wirkung

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