Grabesgrün
gesagt?«
Cassie hatte schon ihre Zigaretten rausgeholt und kramte nach einem Feuerzeug. »Fahr um die nächste Ecke oder so. Es gefiel ihr nicht, dass der Wagen vorm Haus steht. Sie sagt, er sieht aus wie ein Wagen von der Polizei, und die Nachbarn reden schnell.«
Ich fuhr aus der Siedlung hinaus, hielt auf dem Parkplatz gegenüber dem Ausgrabungsgelände, schnorrte eine von Cassies leichten Zigaretten und kramte ein Feuerzeug hervor. »Also?«
»Weißt du, was sie gesagt hat?« Cassie kurbelte vehement das Fenster runter und blies den Rauch nach draußen, und auf einmal begriff ich, dass sie wütend war, wütend und erschüttert. »Sie hat gesagt: ›Es war keine Vergewaltigung oder so, sie haben mich bloß gezwungen, es zu tun.‹ Das hat sie gleich dreimal gesagt. Gott sei Dank sind die Kinder noch zu klein, um –«
»Cass«, sagte ich so ruhig ich konnte. »Von Anfang an?«
»Okay, angefangen hat es damit, dass sie zuerst mit Cathal Mills gegangen ist, da war sie sechzehn und er neunzehn. Er galt, Gott weiß warum, als total cool, und Sandra war verrückt nach ihm. Jonathan Devlin und Shane Waters waren seine besten Freunde. Keiner der beiden hatte eine Freundin, Jonathan war in Sandra verknallt, Sandra mochte ihn, und nach rund sechs Monaten Beziehung sagt Cathal eines schönen Tages zu ihr, Jonathan wollte, und ich zitiere, ›es mit ihr treiben‹, und er hätte nichts dagegen. Als würde er seinen Kumpel von seinem Bier trinken lassen oder so. Mensch, das war in den 80ern, die hatten nicht mal Kondome –«
»Cass –«
Sie warf das Feuerzeug zum Fenster raus gegen einen Baum. Cassie hat einen ziemlich kräftigen Wurf, und es prallte vom Baum ab und flog ins Unterholz. Ich hatte sie schon öfter mal wütend erlebt – ich sage immer, daran ist ihr französischer Großvater schuld, mediterraner Mangel an Selbstbeherrschung – und ich wusste, sie würde sich wieder beruhigen, jetzt, wo sie sich an dem Baum abreagiert hatte. Ich zwang mich zu warten. Sie ließ sich zurück gegen die Lehne fallen, zog an ihrer Zigarette und warf mir gleich darauf einen verlegenen Seitenblick zu.
»Du schuldest mir ein Feuerzeug, Primadonna«, sagte ich. »Also, wie ging’s nun weiter?«
»Und du schuldest mir noch immer mein Geschenk für letztes Jahr Weihnachten. Jedenfalls, Sandra hatte eigentlich kein großes Problem damit, mit Jonathan zu vögeln. Es passierte ein-, zweimal, danach waren sämtliche Beteiligten ein wenig verlegen, sie kamen drüber weg, alles war wieder paletti –«
»Wann war das?«
»Juni’84. Kurz danach war Jonathan anscheinend eine Weile mit einem Mädchen zusammen – das muss Claire Gallagher gewesen sein –, und Sandra glaubt, er hat Cathal den gleichen Gefallen getan. Sie hatte deswegen einen Riesenkrach mit Cathal, aber sie war durch die ganze Geschichte so konfus, dass sie einfach beschlossen hat, sie zu vergessen.«
»Mannomann«, sagte ich. »Anscheinend hab ich damals mitten in einer Trashshow gelebt. ›Jugendliche bekennen: Partnertausch ist cool.‹« Nur einige Meter und einige Jahre entfernt hatten Jamie und Peter und ich uns gegenseitig in den Schwitzkasten genommen und mit Plastikpfeilen auf den schrecklichen kläffenden Terrier von den Carmichaels geworfen. So viele versteckte Paralleluniversen in einer langweiligen Wohnsiedlung; so viele in sich geschlossene Welten auf ein und demselben Raum. Ich dachte an die dunklen archäologischen Schichten unter der Erde, an den Fuchs draußen vor meinem Fenster, dessen heiseres Bellen in einer Stadt erklang, die sich mit der meinen kaum überlappte.
»Dann aber«, fuhr Cassie fort, »kriegte Shane die Sache spitz und wollte auch mal ran. Cathal hatte natürlich nichts dagegen, aber Sandra sehr wohl. Sie mochte Shane nicht – ›der pickelige kleine Wichser‹, hat sie ihn genannt. Ich habe den Eindruck, er war nicht gerade der Beliebtesten einer, aber die anderen beiden hingen aus Gewohnheit mit ihm rum, weil sie von klein auf befreundet waren. Cathal hat versucht, sie zu überreden – ich kann’s kaum erwarten rauszufinden, was dieser Cathal sich so alles im Internet runterlädt, du auch? –, sie hat immer nur gesagt, sie würde drüber nachdenken, und schließlich sind sie im Wald über sie hergefallen, Cathal und unser Knabe Jonathan haben sie festgehalten, und Shane hat sie vergewaltigt. Sie weiß das Datum nicht mehr genau, aber sie weiß, dass sie Blutergüsse an den Handgelenken hatte und befürchtete, die wären
Weitere Kostenlose Bücher