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Grabesgrün

Grabesgrün

Titel: Grabesgrün Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tana French
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die Sache hier könnte in eine ganz andere Richtung weisen.«
    »Inwiefern?«, fragte ich geistesabwesend.
    »Weißt du noch, mein Gefühl, Katys Vergewaltigung könnte nur vorgetäuscht sein – dass es keinen sexuellen Hintergrund hatte? Jetzt hast du uns jemanden geliefert, der ein nichtsexuelles Motiv hat, Devlins Tochter zu vergewaltigen, und der dazu ein Hilfsmittel benutzen muss .«
    »Sandra? Nach zwanzig Jahren?«
    »Der ganze Trubel um Katy – der Zeitungsartikel, diese Tanzveranstaltung, um Geld für Katys Ballettausbildung zu sammeln ... Das hätte der Auslöser sein können.«
    »Cassie«, sagte ich und holte tief Luft. »Ich bin bloß ein einfacher Kleinstadtjunge. Ich konzentriere mich lieber auf das Nächstliegende. Und das Nächstliegende ist im Augenblick Jonathan Devlin.«
    »Ich sag ja nur. Es könnte sich als nützlich erweisen.« Sie streckte den Arm aus und zerzauste mir die Haare, rasch und unbeholfen. »Auf in den Kampf, Kleinstadtjunge. Hals- und Beinbruch.«
    Jonathan war zu Hause, allein. Margaret war mit den Mädchen zu ihrer Schwester gegangen, sagte er, und ich fragte mich, wann und warum. Er sah furchtbar aus. So abgemagert, dass Kleidung und Gesichtshaut schlabberten, und sein Haar war jetzt ganz kurz geschoren. Es ließ ihn irgendwie einsam und verzweifelt wirken, und ich musste an alte Kulturen denken, wo die Hinterbliebenen bei der Einäscherung ihrer Lieben ihr Haar mit verbrennen ließen. Er winkte mir, auf dem Sofa Platz zu nehmen, und setzte sich in einen Sessel mir gegenüber, beugte sich vor, stützte die Ellbogen auf die Knie und faltete die Hände. Das Haus wirkte verlassen, es roch nicht nach Essen auf dem Herd, im Hintergrund lief weder der Fernseher noch die Waschmaschine, nirgendwo lag ein aufgeschlagenes Buch herum, nichts deutete darauf hin, dass er mit irgendetwas beschäftigt gewesen war, als ich kam.
    Er bot mir keinen Tee an. Ich fragte, wie es ihm und seiner Familie ging (»Was meinen Sie wohl?«), erklärte, wir würden verschiedenen Hinweisen nachgehen, blockte seine gereizten Fragen nach Einzelheiten ab, erkundigte mich, ob ihm noch etwas eingefallen sei, das wichtig sein könnte. Die wilde Dringlichkeit, die ich im Wagen empfunden hatten, war in dem Moment verebbt, als er die Tür aufmachte. Ich war so ruhig und klar wie schon seit Wochen nicht mehr. Margaret und Rosalind und Jessica hätten jeden Augenblick zurückkommen können, aber irgendwie war ich mir sicher, dass das nicht passieren würde. Die Fenster waren schmutzig, und die Spätnachmittagssonne spiegelte sich verwirrend auf den Vitrinenschränken und dem polierten Holz des Esstisches, was den Raum in ein streifiges Unterwasserlicht tauchte. Aus der Küche drang das Ticken einer Uhr, schwerfällig und quälend langsam, aber ansonsten war kein Geräusch zu hören, nicht einmal von draußen. Als hätte sich außer mir und Jonathan Devlin ganz Knocknaree geschlossen in Luft aufgelöst. Wir saßen da und blickten einander über den kreisrunden Couchtisch hinweg an, die Antworten so nah, dass ich sie in den Zimmerecken aufgeregt tuscheln hören konnte. Es bestand kein Grund zur Eile.
    »Wer ist denn hier der Shakespeare-Fan?«, fragte ich schließlich und steckte mein Notizbuch weg. Es tat natürlich nichts zur Sache, aber ich dachte, es würde ihn vielleicht etwas unvorsichtiger machen, und außerdem interessierte es mich wirklich.
    Jonathan runzelte verständnislos die Stirn. »Was?«
    »Die Namen Ihrer Töchter«, sagte ich. »Rosalind, Jessica, Katharine mit zwei A. Die sind alle aus Shakespeare-Komödien. Das war doch bestimmt Absicht.«
    Er blinzelte, blickte mich zum ersten Mal mit so etwas wie Wärme an und lächelte schwach. Es war ein gewinnendes Lächeln, froh, aber schüchtern, wie ein Junge, der darauf wartet, dass jemand sein neues Pfadfinderabzeichen bemerkt. »Wissen Sie, dass Sie der Erste sind, dem das auffällt? Na ja, das war meine Idee.« Ich hob aufmunternd eine Augenbraue. »Ich hatte nach unserer Heirat so eine Art Weiterbildungsphase, könnte man sagen – ich hab mich durch alles durchgeackert, was man angeblich gelesen haben sollte: Shakespeare, Milton, George Orwell ... Milton fand ich nicht so berauschend, aber Shakespeare – der war nicht ohne, aber ich hab ihn von vorn bis hinten gelesen. Ich hab oft im Spaß zu Margaret gesagt, wir würden die Zwillinge, wenn sie ein Junge und ein Mädchen würden, Viola und Sebastian nennen müssen, aber sie hat gesagt, dann würden

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