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Grabesgrün

Grabesgrün

Titel: Grabesgrün Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tana French
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oder zwei Stunden geschlafen haben. Irgendwo stimmte eine Schar Seemöwen ein wildes Klagegeschrei an.
    In dem fahlen, nüchternen Licht wirkte die Wohnung verlassen und trostlos: Die Teller und Gläser von letzter Nacht verteilten sich auf dem Couchtisch, ein schwacher, gespenstischer Luftzug bewegte die Blätter mit Notizen, mein Pullover lag als dunkler Fleck auf dem Boden, und überall erstreckten sich lange, verzerrte Schatten. Ich spürte ein Stechen unter dem Brustbein, so heftig und körperlich, dass ich es auf Durst zurückführte. Auf dem Nachttisch stand ein Glas Wasser, und ich nahm es und trank es leer, aber der hohle Schmerz ließ nicht nach.
    Ich hatte gedacht, Cassie würde durch meine Bewegung wach, aber sie rührte sich nicht. Sie schlief tief und fest in meiner Armbeuge, die Lippen leicht geöffnet, eine Hand locker auf dem Kissen. Ich strich ihr die Haare aus der Stirn und weckte sie mit einem Kuss.
    Wir standen erst gegen drei Uhr auf. Der Himmel war grau und schwer geworden, und ein Frösteln durchlief mich, als ich aus dem warmen Bett stieg.
    »Ich hab Hunger wie ein Wolf«, sagte Cassie, die sich die Jeans zuknöpfte. Sie sah sehr schön aus an diesem Tag, zerzaust und volllippig, die Augen ruhig und geheimnisvoll wie ein träumendes Kind, und diese neue Ausstrahlung – ein krasser Gegensatz zu dem tristen Nachmittag – machte mich irgendwie beklommen. »Frühstück?«
    »Heute nicht«, sagte ich. Normalerweise ist das unser Wochenendritual, wenn ich bei ihr übernachte, ein üppiges Frühstück und ein langer Spaziergang am Strand, aber ich fand den Gedanken, über die letzte Nacht zu reden, ebenso unerträglich wie die Aussicht, das Thema unbeholfen zu vermeiden. Die Wohnung wirkte plötzlich beengend. Ich hatte Blutergüsse und Kratzer an den seltsamsten Stellen: Bauch, Ellbogen, einen bösen, kleinen Riss am Oberschenkel. »Ich hol lieber meinen Wagen ab.«
    Cassie zog sich ein T-Shirt über den Kopf und sagte leichthin durch den Stoff: »Soll ich dich hinbringen?«, aber ich hatte das kurze, erschrockene Zucken in ihren Augen gesehen.
    »Ich glaube, ich nehm den Bus«, sagte ich und zog meine Schuhe unter dem Couchtisch hervor. »Ein kleiner Spaziergang tut mir ganz gut. Ich ruf dich später an, okay?«
    »Wie du willst«, sagte sie munter, doch ich wusste, irgendetwas war zwischen uns getreten, irgendetwas Fremdes und Gefährliches. Wir umarmten uns einen Moment lang an der Wohnungstür, heftig.
    An der Haltestelle unternahm ich einen halbherzigen Versuch, auf den Bus zu warten, doch als er nach fünfzehn Minuten noch immer nicht da war, kam mir das Ganze zu umständlich vor – einmal umsteigen, Sonntagsfahrplan, das konnte den ganzen Tag dauern. In Wahrheit graute mir davor, auch nur in die Nähe von Knocknaree zu kommen, solange das Ausgrabungsgelände nicht von lärmenden, energischen Archäologen wimmelte, sondern wie heute verlassen und still unter diesem tiefen, grauen Himmel lag. Ich kaufte mir an einer Tankstelle einen Becher fade schmeckenden Kaffee und machte mich auf den Weg nach Hause. Monkstown ist vier oder fünf Meilen von Sandymount entfernt, aber ich hatte es nicht eilig: Heather war bestimmt zu Hause, mit einer giftig aussehenden grünen Pampe im Gesicht und Sex and the City laut aufgedreht, und würde mir unbedingt von ihren Speed-Dating-Eroberungen erzählen wollen. Außerdem würde sie fragen, wieso meine Jeans so verdreckt war und was ich mit dem Wagen angestellt hatte. Mir war, als hätte jemand eine gnadenlose Kette von Sprengkörpern in meinem Kopf gezündet.
    Mir war nämlich klar, dass ich letzte Nacht zumindest einen der größten Fehler meines Lebens begangen hatte. Ich hatte auch früher schon mit den falschen Leuten geschlafen, aber so eine Riesendummheit war mir noch nie unterlaufen. Die Standardreaktion nach so etwas ist entweder der Beginn einer offiziellen »Beziehung« oder der Abbruch jedweder Kommunikation – ich hatte in der Vergangenheit beides schon versucht, mit unterschiedlichem Erfolg –, aber ich konnte wohl kaum aufhören, mit meiner engsten Kollegin zu sprechen, und was die Möglichkeit einer Liebesbeziehung anging ... Selbst wenn es nicht gegen die Dienstvorschriften verstoßen hätte, ich schaffte es ja nicht mal, vernünftig zu essen oder zu schlafen oder Klopapier zu kaufen, ich stürzte mich beim Verhör auf Verdächtige und hatte im Zeugenstand ein Blackout und musste mitten in der Nacht von archäologischen Ausgrabungen gerettet

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