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Grabesgrün

Grabesgrün

Titel: Grabesgrün Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tana French
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jeder Kindheitsalbtraum auf einmal wahr. Ich wusste ohne jeden Zweifel, dass ich nie wieder aus dem Wald rauskommen würde, man würde meinen Schlafsack finden – einen Augenblick lang sah ich alles vor mir, realistisch scharf, Cassie in ihrem roten Pullover, wie sie zwischen fallenden Blättern auf der Lichtung kniete und mit einer behandschuhten Hand den Stoff berührte – und sonst nichts, niemals.
    Dann sah ich zwischen dahinrasenden Wolken einen fingernagelbreiten Mond auftauchen und wusste, dass ich heraus war, auf dem Ausgrabungsgelände. Der Boden war tückisch, er rutschte weg und gab unter meinen Füßen nach; ich strauchelte und stieß mir das Schienbein an einem alten Mauerstück, konnte gerade noch das Gleichgewicht halten und lief weiter. Ein raues Keuchen ertönte laut in meinen Ohren, aber ich wusste nicht, ob es von mir kam. Wie jeder Detective war ich davon ausgegangen, dass ich der Jäger bin. Nie wäre ich auf die Idee gekommen, ich könnte schon die ganze Zeit der Gejagte sein.
    Der Land Rover ragte strahlend weiß in der Dunkelheit auf, wie eine freundlich leuchtende Kirche, die Zuflucht bot. Ich brauchte ein paar Anläufe, um die Tür aufzubekommen; einmal fielen mir die Schlüssel aus der Hand, und ich tastete hektisch im trockenen Gras herum, mit wilden Blicken über die Schulter, sicher, dass ich sie nie finden würde, bis mir einfiel, dass ich noch immer die Taschenlampe in der Hand hielt. Schließlich hatte ich es geschafft, sprang in den Wagen, wobei ich mir den Ellbogen am Lenkrad stieß, verriegelte alle Türen und saß da, keuchend und völlig verschwitzt. An Fahren war nicht zu denken, so zittrig, wie ich war. Ich fand meine Zigaretten, schaffte es, mir eine anzuzünden. Wie gern hätte ich einen starken Drink oder einen großen Joint gehabt. Die Knie meiner Jeans waren schlammverschmiert, obwohl ich mich nicht erinnern konnte, gestürzt zu sein.
    Als meine Hände wieder ruhig genug waren, um die Handytasten zu drücken, rief ich Cassie an. Es musste weit nach Mitternacht sein, vielleicht noch später, aber sie meldete sich nach dem zweiten Klingeln und klang hellwach. »Hi, was gibt’s?«
    Einen schrecklichen Augenblick lang dachte ich, meine Stimme würde nicht funktionieren. »Wo bist du?«
    »Ich bin vor gut zwanzig Minuten nach Hause gekommen. Emma und Susanna und ich waren im Kino und danach im Trocadero essen, und ich sag dir, der Rotwein war Spitzenklasse. Drei Typen haben versucht, uns anzubaggern, Emma meinte, es wären Schauspieler und sie hätte einen davon im Fernsehen gesehen, in dieser Krankenhausserie –«
    Sie war beschwipst, aber nicht richtig betrunken. »Cassie«, sagte ich. »Ich bin in Knocknaree. Neben der Ausgrabung.«
    Eine winzige Pause. Dann sagte sie ruhig, mit einer anderen Stimme: »Soll ich dich abholen?«
    »Ja. Bitte.« Erst als sie es sagte, wurde mir klar, dass ich sie deshalb angerufen hatte.
    »Okay. Bis gleich.« Sie legte auf.
    Sie brauchte eine Ewigkeit, so lange, dass ich mir schon alle möglichen Schreckensszenarien ausmalte: Sie war von einem Laster zermalmt worden, sie hatte einen Platten gehabt und war am Straßenrand von Menschenhändlern entführt worden. Ich schaffte es, meine Pistole hervorzuholen, und legte sie auf den Schoß – ohne den Hahn zu spannen, so klar konnte ich doch noch denken. Ich rauchte eine nach der anderen, und von dem dichten Qualm im Wagen tränten mir die Augen. Draußen huschten und raschelten Wesen im Unterholz, Zweige knackten. Immer wieder fuhr ich herum, mit rasendem Herzen, die Pistole fest umklammert, überzeugt, am Fenster ein Gesicht gesehen zu haben, wild und lachend, aber es war nie jemand da. Ich schaltete das Deckenlicht an, kam mir aber zu auffällig vor, wie ein Mann in der Wildnis am Lagerfeuer, das Raubtiere anlockt, und ich machte es gleich wieder aus.
    Endlich hörte ich das Brummen der Vespa, sah das Scheinwerferlicht über den Hügel kommen. Ich steckte die Pistole zurück ins Halfter und öffnete die Tür. Cassie sollte nicht sehen, wie ich mich mit der Tür abmühte. Nach der Dunkelheit war das plötzliche Licht blendend, surreal. Sie hielt neben dem Land Rover und rief: »Hi.«
    »Hi«, sagte ich und stolperte aus dem Wagen. Meine Beine waren verkrampft und steif, anscheinend hatte ich die Füße die ganze Zeit fest auf den Boden gepresst. »Danke.«
    »Kein Problem. Ich war sowieso wach.« Vom Fahrtwind war ihr Gesicht gerötet, und ihre Augen strahlten, und als ich nahe bei ihr war,

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