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Grabesgrün

Grabesgrün

Titel: Grabesgrün Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tana French
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... Und dann hab ich Panik gekriegt, richtige Panik.« Meine Stimme versagte.
    »He«, sagte Cassie. Sie beugte sich zu mir und legte mir eine Hand auf die Schulter. »Das ist ein Riesenschritt, Rob. Beim nächsten Mal fällt dir auch der Rest wieder ein.«
    »Nein«, sagte ich. »Nein, bestimmt nicht.« Ich konnte es nicht erklären, ich weiß bis heute nicht, warum ich mir so sicher war: Ich hatte meine große Chance gehabt, und ich hatte sie vertan. Ich schlug die Hände vors Gesicht und schluchzte wie ein Kind.
    Sie nahm mich nicht in die Arme, versuchte auch nicht, mich zu trösten, und ich war froh darüber. Sie saß einfach nur still da, ihr Daumen bewegte sich regelmäßig auf meiner Schulter, während ich weinte. Nicht um die drei Kinder von damals, das kann ich nicht behaupten, aber um die unüberbrückbare Distanz zwischen ihnen und mir: um die Millionen Meilen und die Planeten, die mit schwindelerregender Geschwindigkeit auseinanderflogen. Um all das, was wir damals gehabt hatten. Wir waren so klein gewesen, so unbekümmert sicher, dass wir zusammen den vielen komplizierten Bedrohungen der Erwachsenenwelt trotzen würden, dass wir einfach durch sie hindurchlaufen würden, lachend und auf und davon.
    »Entschuldige«, sagte ich schließlich. Ich richtete mich auf und wischte mir mit dem Handgelenk übers Gesicht.
    »Was denn?«
    »Dass ich mich zum Idioten mache. Das war nicht meine Absicht.«
    Cassie zuckte die Achseln. »Dann sind wir ja quitt. Jetzt weißt du, wie ich mich fühle, wenn ich diese Träume habe und du mich wecken musst.«
    »Ja?« Der Gedanke war mir nie gekommen.
    »Ja.« Sie rollte sich auf den Bauch, holte eine Packung Papiertaschentücher aus der Nachttischschublade und reichte sie mir. »Nase putzen.«
    Ich rang mir ein schwaches Lächeln ab und gehorchte. »Danke, Cass.«
    »Wie fühlst du dich?«
    Ich holte tief und zittrig Luft und gähnte, plötzlich und unwiderstehlich. »Geht so.«
    »Meinst du, du kannst schlafen?«
    Die Spannung wich langsam aus meinen Schultern, und ich war erschöpfter als je zuvor in meinem Leben, aber es huschten noch immer kleine Schatten über meine Augenlider, und jeder Seufzer und jedes Knacken im stillen Haus ließ mich zusammenfahren. Ich wusste, wenn Cassie das Licht ausmachte und ich allein auf dem Sofa lag, würde die Luft sich mit namenlosen Dingen füllen, drängend und tuschelnd und kichernd. »Ich glaub, ja«, sagte ich. »Kann ich hier bei dir schlafen?«
    »Klar. Aber wenn du schnarchst, landest du wieder auf dem Sofa.« Sie setzte sich auf, blinzelte und fing an, sich die Spangen aus dem Haar zu nehmen.
    »Tu ich nicht«, sagte ich. Ich zog mir Schuhe und Socken aus, aber mich weiter auszuziehen erschien mir ein unüberwindbares Hindernis. Ich kroch komplett angezogen unter die Bettdecke.
    Cassie zog ihren Pullover aus und legte sich neben mich. Ohne darüber nachzudenken, schlang ich meine Arme um sie, und sie schmiegte sich mit dem Rücken an mich.
    »Nacht, Cass«, sagte ich. »Danke nochmal.«
    Sie tätschelte meinen Arm und knipste die Nachttischlampe aus. »Nacht, du Dummi. Schlaf gut. Weck mich, wenn du willst.«
    Ihr Haar an meinem Gesicht hatte einen süßen, grünen Geruch, wie Teeblätter. Sie legte den Kopf aufs Kissen und seufzte. Sie fühlte sich warm und kompakt an, und ich musste irgendwie an poliertes Elfenbein denken, glänzende Kastanien: die pure, tiefe Befriedigung, wenn etwas perfekt in deine Hand passt. Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal jemanden so gehalten hatte.
    »Bist du wach?«, flüsterte ich nach einer Weile.
    »Ja«, sagte Cassie.
    Wir lagen ganz still. Ich spürte, wie die Luft sich um uns herum veränderte, aufblühte und schimmerte wie die Luft über einer sengend heißen Straße. Mein Herz ging zu schnell, oder ihres schlug mir gegen die Brust, ich weiß nicht genau. Ich drehte Cassie in meinen Armen um und küsste sie, und nach einem Moment erwiderte sie meinen Kuss.
    Ich weiß, ich habe gesagt, dass ich mich stets für das Ernüchternde und gegen das Unwiderrufliche entscheide, womit ich natürlich meinte, dass ich schon immer ein Feigling war, aber das war gelogen: nicht immer, nicht in jener Nacht, nicht dieses eine Mal.

17
    AUSNAHMSWEISE WACHTE ICH ZUERST AUF. Es war sehr früh, die Straßen noch still und der Himmel – bei Cassie kann keiner ins Fenster schauen, da sie hoch über den Dächern wohnt – türkis mit einem Hauch Pastellgold gesprenkelt. Ich konnte höchstens ein

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