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Grabesgrün

Grabesgrün

Titel: Grabesgrün Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tana French
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konnte ich die kalte Aura spüren, die sie verströmte. Sie nahm ihren Rucksack ab und zog einen Ersatzhelm raus. »Da.«
    In dem Helm konnte ich nichts hören, nur das gleichmäßige Motorengeräusch und das Blut, das mir in den Ohren rauschte. Die Luft flog an mir vorbei, dunkel und kalt wie Wasser, Autoscheinwerfer und Neonschilder zogen helle, träge Lichtschweife hinter sich her. Cassies Oberkörper war schmächtig und fest zwischen meinen Händen, bewegte sich, wenn sie schaltete oder sich in eine Kurve legte. Ich hatte das Gefühl, der Roller würde schweben, hoch über der Straße, und ich wünschte, wir wären auf einem dieser amerikanischen Highways, wo man endlos lange durch die Nacht fahren kann.

    Sie hatte im Bett gelesen, als ich anrief. Auf dem Boden neben dem Futon lagen Sturmhöhe und ihr viel zu weites T-Shirt. Halb geordnete Stapel mit Arbeitskram – ein Foto von dem Würgemal an Katys Hals sprang mir ins Auge, hing wie ein Nachbild in der Luft – lagen verteilt auf dem Couchtisch und dem Sofa, darüber Cassies Ausgehklamotten: enge, dunkle Jeans, ein rotes knappes Seidentop mit Goldstickerei. Die runde Nachttischlampe tauchte den Raum in ein gemütliches Licht.
    »Wann hast du zuletzt was gegessen?«, fragte Cassie.
    Ich hatte meine Sandwiches völlig vergessen, sie lagen wahrscheinlich noch auf der Lichtung. Genau wie der Schlafsack und die Thermosflasche. Ich würde am nächsten Morgen alles einsammeln, wenn ich den Wagen abholte. Bei dem Gedanken, noch einmal dorthin zu müssen, selbst bei Tag, fuhr mir ein rasches Kribbeln den Hals hinunter. »Ich weiß nicht«, sagte ich.
    Cassie kramte im Schrank herum, reichte mir eine Flasche Brandy und ein Glas. »Trink was, ich mach dir Eier auf Toast, okay?«
    Wir trinken beide nicht gern Brandy – die Flasche war ungeöffnet und verstaubt, wahrscheinlich bei der Tombola auf der Weihnachtsfeier gewonnen oder so –, aber ein kleiner objektiver Teil meines Verstandes war ziemlich sicher, dass sie recht hatte, ich stand irgendwie unter Schock. »Ja, prima«, sagte ich. Ich setzte mich auf die Kante des Futons – das ganze Zeug vom Sofa zu räumen erschien mir fast unvorstellbar kompliziert – und starrte eine Weile die Flasche an, bis ich begriff, dass ich sie öffnen sollte.
    Ich kippte zu viel Brandy auf einmal hinunter, musste husten (Cassie warf mir einen Blick zu, sagte nichts) und spürte schlagartig die Wirkung, ein Brennen, das mir durch die Adern strömte. Meine Zunge pochte; anscheinend hatte ich mir irgendwann daraufgebissen. Ich schenkte mir nach und trank in kleineren Schlucken. Cassie rumorte in der Küche, holte mit einer Hand Kräuter aus dem Schrank, mit der anderen Eier aus dem Kühlschrank, schob mit der Hüfte eine Schublade zu. Sie hatte Musik laufen – die Cowboy Junkies, leise, langsam und melodiös. Normalerweise mag ich die Band, aber heute Nacht hörte ich irgendwo unter dem Bass versteckt Getuschel, Rufe, einen hämmernden Trommelschlag, Dinge, die nicht dahingehörten. »Können wir die Musik ausmachen?«, fragte ich, als ich es nicht mehr aushielt. »Bitte?«
    Sie wandte sich von der Bratpfanne ab und sah mich an, einen Holzlöffel in der Hand. »Ja, klar«, sagte sie nach einem Moment. Sie stellte die Stereoanlage ab, packte den Toast auf einen Teller und schob die Eier oben drauf. »Da.«
    Der Geruch machte mir bewusst, wie hungrig ich war. Ich schlang das Essen in mich hinein, ohne zwischendurch richtig Luft zu holen. Es war Vollkornbrot, und die Eier dufteten nach Kräutern und Gewürzen, und nie zuvor hatte etwas so köstlich geschmeckt. Cassie saß im Schneidersitz auf dem Futon und beobachtete mich. »Mehr?«, fragte sie, als ich fertig war.
    »Nein«, sagte ich. Zu viel zu schnell: Ich hatte üble Magenkrämpfe. »Danke.«
    »Was ist passiert?«, sagte sie leise. »Hast du dich an was erinnert?«
    Ich fing an zu weinen. Ich weine ganz selten – nur zweimal, seit ich dreizehn war, glaube ich, und beide Male war ich so betrunken, dass es eigentlich nicht zählt –, deshalb brauchte ich einen Moment, um zu begreifen, was los war. Ich wischte mir mit der Hand übers Gesicht und starrte auf meine nassen Finger. »Nein«, sagte ich. »Nichts, was mich irgendwie weiterbrächte. Ich kann mich an den ganzen Nachmittag erinnern, wie wir in den Wald gegangen sind und worüber wir geredet haben und dass wir was gehört haben – was, daran kann ich mich nicht erinnern – und wie wir losgelaufen sind, um es rauszufinden

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