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Grabesgrün

Grabesgrün

Titel: Grabesgrün Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tana French
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Leuten, die über die Küstenstraße nach Hause trotteten, sahen aus, als schwebten sie in der Luft.
    Ich dachte über Vieles nach in jener Nacht. Ich dachte an Cassie in Lyon, eine junge Frau mit Schürze, die in einem sonnigen Straßencafé bediente und mit den Gästen auf Französisch scherzte. Ich dachte an meine Eltern, wenn sie sich schick machten, um tanzen zu gehen: die akkuraten Linien, die der Kamm meines Vaters in seinem Pomadehaar hinterließ, der intensive Duft des Parfüms meiner Mutter und ihr geblümtes Kleid, das zur Tür hinaus wehte. Ich dachte an Jonathan und Cathal und Shane, schlaksig und unbesonnen und lauthals lachend, wenn sie rumalberten; an Sam inmitten von sieben lärmenden Geschwistern an einem großen Holztisch, und an Damien, wie er in einer stillen Unibibliothek ein Bewerbungsformular für einen Job in Knocknaree ausfüllte. Ich dachte an Marks bohrende Augen – Das Einzige, woran ich glaube, ist da draußen auf dem Ausgrabungsgelände – und dann an Revolutionäre mit zerfetzten Bannern in der Hand, an Flüchtlinge, die nachts mit raschen Strömungen schwammen; an all die Menschen, die ihr eigenes Leben so leichtnehmen oder ihren Einsatz für so wichtig halten, dass sie sich festen Schrittes und offenen Auges den Dingen stellen können, die ihr Leben beenden oder verwandeln werden, und deren Kriterien weit höher sind als unsere Vernunft. Lange Zeit versuchte ich, mich daran zu erinnern, dass ich meiner Mutter Wildblumen brachte.

24
    O’KELLY WAR MIR schon immer ein Rätsel. Er konnte Cassie nicht leiden, konnte mit ihrer Theorie nichts anfangen und hielt sie im Grunde für eine unverbesserliche Nervensäge. Aber für ihn hat das Dezernat eine tiefe, fast kultische Bedeutung, und wenn er sich dazu durchgerungen hat, einem Mitarbeiter oder sogar auch einer Mitarbeiterin den Rücken zu stärken, so tut er das ohne Einschränkung. Er gab Cassie den Sender und den Van mit Verstärkung, obwohl das in seinen Augen reine Verschwendung von Zeit und Personal war. Als ich am nächsten Morgen ins Büro kam – sehr früh, wir wollten Rosalind abfangen, ehe sie zur Schule ging –, war Cassie schon da und wurde verdrahtet.
    »Und ziehen Sie bitte den Pullover aus«, sagte der Überwachungstechniker. Er war ein kleiner Mann mit ausdruckslosem Gesicht und den geschickten Händen eines Profis. Cassie zog sich gehorsam den Pullover über den Kopf, wie ein Kind beim Arzt. Darunter trug sie ein T-Shirt. Sie hatte sich nicht wie in den vergangenen Tage trotzig geschminkt; dunkle Schatten waren unter ihren Augen zu sehen. Ich fragte mich, ob sie überhaupt geschlafen hatte. Ich stellte mir vor, wie sie zu Hause auf der Fensterbank saß, das T-Shirt über die Knie gezogen, die rote Glut einer Zigarette, die kurz aufglimmte, wenn sie daran zog, während sie zusah, wie die Morgendämmerung den Garten erhellte. Sam stand am Fenster, mit dem Rücken zu uns. O’Kelly war an der Tafel beschäftigt, wischte Linien aus und zog sie neu. »Und jetzt führen Sie den Draht bitte unter dem T-Shirt hindurch«, sagte der Techniker.
    »Ihre Telefonhinweise warten auf Sie«, sagte O’Kelly zu mir.
    »Ich will mitkommen«, sagte ich. Sams Schultern versteiften sich. Cassie hatte den Kopf über das Mikro gebeugt und blickte nicht auf.
    »Das können Sie vergessen«, sagte O'Kelly.
    Ich war so müde, dass ich alles durch einen feinen, brodelnden weißen Nebel sah. »Ich will mitkommen«, wiederholte ich. Diesmal reagierte keiner.
    Der Techniker befestigte die Batterie an Cassies Jeans, machte einen kleinen Einschnitt in den Halssaum ihres T-Shirts und schob das Mikro hinein. Sie durfte den Pullover wieder anziehen, Sam und O'Kelly drehten sich um, und dann bat er sie, etwas zu sagen. Als sie ihn verständnislos anblickte, sagte O'Kelly ungeduldig: »Sagen Sie irgendwas, was Ihnen einfällt, Maddox, erzählen Sie uns von mir aus, was Sie am Wochenende vorhaben«, doch stattdessen rezitierte sie ein Gedicht. Es waren Gedichtzeilen von der Sorte, wie man sie vielleicht in der Schule auswendig lernen muss. Als ich lange danach in einem verstaubten Buchladen Seiten durchblätterte, stieß ich darauf:
    Da macht ein Hauch mich von Verfall erzittern.
    Die Amsel klagt in den entlaubten Zweigen.
    Es schwankt der rote Wein an rostigen Gittern,
    Indes wie blasser Kinder Todesreigen
    Um dunkle Brunnenränder, die verwittern,
    Im Wind sich fröstelnd blaue Astern neigen.

    Ihre Stimme war leise und gleichmäßig, ohne

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