Grabesgrün
packte einen Zipfel von Cassies Ärmel.
»Ist das in Wirklichkeit passiert?«, flüsterte sie.
»Ja, Jessica«, sagte Rosalind leise. Sie löste Jessicas Hand und zog das Kind wieder eng an sich, streichelte ihm das Haar. »Ja, Jessica, es ist wirklich passiert.« Jessica starrte unter ihrem Arm hervor, und ihre Augen waren groß und blicklos.
Sie hatten keinen Internetzugang, womit die deprimierende Möglichkeit irgendeines Chatroom-Perversen von der anderen Seite des Globus ausgeschlossen war. Sie hatten auch keine Alarmanlage, aber das war vermutlich irrelevant: Katy war nicht von einem Eindringling aus dem Bett entführt worden. Wir hatten sie vollständig und sorgsam bekleidet aufgefunden – ja, sie hatte tatsächlich immer großen Wert auf ihre Kleidung gelegt, sagte Margaret. Das hatte sie von ihrer Ballettlehrerin übernommen, für die sie geschwärmt hatte. Sie hatte das Licht ausgeschaltet und gewartet, bis ihre Eltern eingeschlafen waren, dann, irgendwann in der Nacht oder in den frühen Morgenstunden, war sie aufgestanden, hatte sich angezogen und war aus dem Haus geschlichen. Der Haustürschlüssel steckte in ihrer Tasche: Sie hatte zurückkommen wollen.
Trotzdem durchsuchten wir ihr Zimmer. Einerseits hofften wir, irgendwelche Hinweise zu finden, wo sie hingegangen war, andererseits bestand auch die grausame Möglichkeit, dass Jonathan oder Margaret sie getötet und dann alles so inszeniert hatten, als hätte sie das Haus lebend verlassen. Sie hatte ein gemeinsames Zimmer mit Jessica gehabt. Das Fenster war zu klein und die Glühbirne zu schwach, wodurch das gruselige Gefühl, das mir dieses Haus vermittelte, verstärkt wurde. Die Wand auf Jessicas Seite war, was mich ein wenig erstaunte, mit sonnigen, idyllischen Kunstdrucken behängt: Impressionistische Picknicks, Peter-Pan-Feen, Landschaften aus den heiteren Teilen von Herr der Ringe. (»Die hab ich ihr alle geschenkt«, sagte Rosalind von der Tür her. »Nicht wahr, Süße?« Jessica nickte, den Kopf gesenkt.) Katys Wand schmückten, wie zu erwarten war, nur Ballettmotive: Fotos von Barischnikow und Margot Fonteyn, offenbar aus der Fernsehzeitschrift ausgeschnitten, ein Zeitungsfoto der Pawlowa, das Aufnahmeschreiben von der Royal Ballet School, die hübsche Kohlezeichnung einer jungen Tänzerin mit der Widmung »Für Katy, 21.03.03. Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag! Dein Daddy« in einer Ecke.
Der weiße Schlafanzug, den Katy Montagnacht getragen hatte, lag zerknüllt auf dem Bett. Wir packten ihn sicherheitshalber in einen Beweismittelbeutel, zusammen mit der Bettwäsche und ihrem Handy, das abgeschaltet im Nachtschränkchen lag. Sie hatte kein Tagebuch geführt – »Vor einiger Zeit hat sie mal eins angefangen, aber nach ein paar Monaten hatte sie keine Lust mehr. Und dann hat sie es ›verloren‹«, sagte Rosalind, malte dabei Anführungszeichen in die Luft und lächelte mich traurig und vielsagend an. »Danach hat sie kein Neues mehr angefangen.« –, aber wir nahmen ihre Schulhefte und überhaupt alles, wo sie etwas geschrieben hatte, für den Fall, dass es uns irgendwelche Hinweise liefern konnte. Jedes der Mädchen hatte einen kleinen holzfurnierten Schreibtisch, und auf Katys stand eine runde Dose mit einem Wirrwarr an Haargummis darin. Mein Blick fiel auf zwei Kornblumen aus Seide, die mir einen kleinen Stich versetzten.
»Puh«, sagte Cassie, als wir aus der Siedlung wieder auf die Straße kamen. Sie fuhr sich mit den Händen durchs Haar, brachte ihren Lockenschopf durcheinander.
»Irgendwo hab ich den Namen schon mal gehört, kann noch nicht so lange her sein«, sagte ich. »Jonathan Devlin. Wenn wir wieder zurück sind, lassen wir den als Erstes durch den Computer laufen. Vielleicht ist er vorbestraft.«
»Mensch, ich würd mir fast wünschen, dass die Lösung so einfach ist«, sagte Cassie. »Mit der Familie stimmt irgendwas absolut nicht.«
Ich war froh – genauer gesagt erleichtert –, dass sie das sagte. Mich hatte so einiges an den Devlins irritiert: Jonathan und Margaret hatten sich nicht ein einziges Mal berührt und einander kaum angesehen. Statt des zu erwartenden Gedränges von neugierigen und tröstenden Nachbarn war außer dieser verhuschten Tante Vera kein Mensch da gewesen. Jedes Mitglied der Familie schien von einem anderen Planeten zu stammen. Aber so angespannt wie ich war, wollte ich meiner eigenen Wahrnehmung nicht so recht trauen, daher beruhigte es mich, dass Cassie ein ähnlich ungutes
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