Grabesgrün
Floskeln (das übernehme immer ich, weil ich eher wie ein seriöser Erwachsener wirke als Cassie): Leiche eines jungen Mädchens, Name wird erst bekannt gegeben, wenn die Angehörigen informiert sind, vermutlich gewaltsamer Tod, Aufruf an die Öffentlichkeit mit der Bitte um sachdienliche Hinweise, kein Kommentar kein Kommentar kein Kommentar.
»Handelt es sich um das Werk einer satanischen Sekte?«, fragte eine dicke Frau in unvorteilhafter Stretchhose. Wir hatten schon mit ihr zu tun gehabt. Sie arbeitete für eine dieser Boulevardzeitungen mit einem Hang zu reißerischen Schlagzeilen und ausgefallener Rechtschreibung.
»Dafür gibt es keinerlei Anhaltspunkte«, sagte ich schroff. Die gibt es nie. Mordlüsterne satanische Sekten sind die kriminalistische Version des Yetis. Keiner hat ihn je gesehen, und es gibt keinen Beweis, dass er überhaupt existiert, aber ein großer, undeutlicher Fußabdruck genügt, und schon verwandeln sich die Medien in ein einziges geiferndes Rudel, deshalb müssen wir so tun, als nähmen wir die Idee zumindest halbwegs ernst.
»Aber sie wurde doch auf einem Altar gefunden, auf dem die Druiden Menschen geopfert haben, oder?«, hakte die Frau nach.
»Kein Kommentar«, sagte ich automatisch. Mir war gerade eingefallen, woran mich die Steinplatte mit der tiefen Rinne am Rand erinnerte: an die Obduktionstische in der Gerichtsmedizin, die eine Rinne hatten, damit das Blut abfließen konnte. Ich hatte die ganze Zeit nur darüber nachgedacht, ob ich die Platte von 1984 her wiedererkannte, das Naheliegende hatte ich dabei völlig übersehen. Verdammt.
Schließlich gaben die Reporter auf und schlenderten davon. Cassie hatte auf den Stufen vor dem Fundschuppen gesessen, möglichst unauffällig dreingeblickt und alles im Auge behalten. Als sie die dicke Journalistin auf Mark zusteuern sah, der auf dem Weg von der Kantine Richtung Dixie-Klo war, stand sie auf, ging hinüber und stellte sich so, dass Mark sie sehen konnte. Ich beobachtete, wie er über die Schulter der Reporterin hinweg ihren Blick auffing. Kurz darauf schüttelte Cassie amüsiert den Kopf und wandte sich wieder ab.
»Was war das denn?«, fragte ich und holte den Schlüssel zum Fundschuppen aus der Tasche.
»Er hält ihr einen Vortrag über die Ausgrabung«, sagte Cassie, während sie sich grinsend den Staub vom Hosenboden ihrer Jeans klopfte. »Jedes Mal, wenn sie irgendeine Frage zu der Leiche stellen will, sagte er ›Moment‹ und ereifert sich darüber, dass die Regierung die wichtigste Entdeckung seit dem Grab von Tutenchamun zerstören will, oder er fängt an, ihr die Siedlung aus der Wikingerzeit zu erläutern. Ich hätte mir das gern noch ein bisschen länger angesehen. Endlich hat sie mal einen ebenbürtigen Gegner.«
Die übrigen Archäologen hatten kaum etwas Nützliches zu erzählen, außer dem Künstlerknaben, der Sean hieß und meinte, wir sollten auch die Möglichkeit von Vampiren nicht ausschließen. Er wurde sehr viel ernster, als wir ihm das Foto von der Leiche zeigten, aber wenngleich er und die anderen Katy oder vielleicht Jessica ein paarmal auf dem Gelände gesehen hatten – manchmal mit Kindern in ihrem Alter, manchmal mit einer Jugendlichen, deren Beschreibung auf Rosalind zutraf –, war niemandem etwas Ungewöhnliches aufgefallen. »Die einzigen finsteren Gestalten hier«, fügte Mark noch hinzu, »sind die Politiker, die hier auftauchen, um sich vor ihrem kulturellen Erbe fotografieren zu lassen, ehe sie es plattmachen. Soll ich Ihnen die beschreiben?« Es erinnerte sich auch niemand an den Unbekannten im Trainingsanzug, was meinen Verdacht bestätigte, dass es sich um einen völlig normalen Spaziergänger aus der Siedlung oder aber um Damiens imaginären Freund handelte. Bei jeder Ermittlung stößt man auf solche Leute, die einen letzten Endes nur ungeheuer viel Zeit kosten, weil sie unter dem Zwang stehen, genau das zu sagen, was du ihrer Meinung nach hören willst.
Die Archäologen aus Dublin – Damien, Sean und noch ein paar andere – hatten den Montag- und Dienstagabend alle zu Hause verbracht. Die Übrigen waren in dem angemieteten Haus zwei Meilen von der Ausgrabung entfernt gewesen. Dr. Hunt war nach Lucan zu seiner Frau gefahren. Er bestätigte die Theorie der dicken Reporterin: Bei dem Stein, auf dem Katy abgelegt worden war, handelte es sich um einen Opferaltar aus der Bronzezeit. »Selbstverständlich können wir nicht mit Gewissheit sagen, ob für Tier- oder Menschenopfer,
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