Grabesgrün
Gefühl hatte. Ich hatte also keinen Nervenzusammenbruch oder wurde allmählich verrückt. Nein, wenn ich erst mal zu Hause war und mich in Ruhe hinsetzen und alles verarbeiten konnte, käme ich wieder in Ordnung. Beim ersten Anblick von Jessica wäre mir fast das Herz stehengeblieben, und die Erkenntnis, dass sie Katys Zwillingsschwester war, hatte mich nicht so beruhigt, wie man meinen sollte. In diesem Fall gab es zu viele verdrehte Parallelen, und ich wurde das beklommene Gefühl einfach nicht los, dass sie irgendwie geplant waren. Jede Übereinstimmung erschien mir wie eine Flaschenpost, die mir am Strand direkt vor die Füße gespült wird, im Glas säuberlich eingeritzt mein Name, drinnen eine Botschaft in einer Geheimschrift, die nicht zu entziffern ist.
Als ich aufs Internat kam, erzählte ich den Jungs in meinem Schlafraum, ich hätte einen Zwillingsbruder. Mein Vater war ein guter Amateurfotograf, und als er einmal an einem Samstag in jenem Sommer sah, wie wir ein neues waghalsiges Kunststück mit Peters Fahrrad übten – so schnell wie möglich oben auf dem kniehohen Gartenmäuerchen entlangfahren und am Ende durch die Luft segeln –, mussten wir es für ihn in allen Variationen so lange wiederholen, bis er einen ganzen Schwarz-Weiß-Film verschossen und genau die Aufnahme im Kasten hatte, die er haben wollte. Wir hängen in der Luft; ich fahre, und Peter sitzt auf dem Lenker, die Arme weit ausgebreitet, und wir haben beide die Augen fest zusammengepresst und den Mund aufgerissen (hohe, kieksige Jungenschreie), und unsere Haare flattern als feuriger Heiligenschein. Ich bin ziemlich sicher, dass wir direkt, nachdem das Foto gemacht wurde, eine Bruchlandung hinlegten und über den Rasen purzelten und dass meine Mutter meinem Vater eine Standpauke hielt, weil er uns auch noch dazu ermuntert hatte. Er hat das Foto so aufgenommen, dass der Boden nicht zu sehen ist, und wir scheinen schwerelos am Himmel zu schweben.
Ich klebte das Foto auf ein Stück Pappe, stellte es auf meinen Nachttisch, wo zwei Familienfotos erlaubt waren, und erzählte den anderen Jungs detaillierte Geschichten – manche wahr, manche erfunden und bestimmt total unglaubwürdig – von den Abenteuern, die mein Zwillingsbruder und ich in den Ferien erlebt hatten. Er gehe auf eine andere Schule, sagte ich, eine in Irland. Unsere Eltern hätten gelesen, dass es für Zwillinge besser sei, wenn sie getrennt wurden. Er lerne Reiten.
Als ich das zweite Mal aus den großen Ferien zurückkam, hatte ich eingesehen, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis meine Zwillingsstory mich in furchtbar peinliche Schwierigkeiten bringen würde. Beim Sportfest könnte ein Klassenkamerad meinen Eltern über den Weg laufen und sie arglos fragen, warum Peter nicht mitgekommen sei. Ich ließ das Foto also zu Hause – versteckt in einem Schlitz in der Matratze, wie ein schmutziges Geheimnis – und hörte auf, meinen Bruder zu erwähnen, damit hoffentlich alle vergaßen, dass ich einen hatte. Als ein Junge namens Hull – er war so einer, der kleinen pelzigen Tierchen die Beine ausriss – mein Unbehagen witterte und immer bohrender nachfragte, erzählte ich ihm schließlich, dass mein Zwillingsbruder in dem Sommer vom Pferd gestürzt und an einer Gehirnerschütterung gestorben wäre. Einen Großteil des Schuljahres lebte ich in der panischen Angst, das Gerücht über Ryans toten Bruder könnte den Lehrern und somit auch meinen Eltern zu Ohren kommen. Aus heutiger Sicht bin ich mir ziemlich sicher, dass die Lehrer es erfahren haben, aber da sie natürlich über die Knocknaree-Sache Bescheid wussten, wollten sie mir gegenüber sensibel und verständnisvoll sein – wenn ich darüber nachdenke, zucke ich noch immer zusammen – und einfach abwarten, bis das Gerücht von allein wieder erlosch. Ich glaube, ich hab großes Glück gehabt: Ein paar Jahre später hätte man mich wahrscheinlich zum Kinderpsychologen geschickt und mich gezwungen, meine Gefühle mit Handpuppen mitzuteilen.
Dennoch fiel es mir schwer, mich von meinem Zwilling zu verabschieden. Es war irgendwie tröstlich gewesen zu wissen, dass Peter irgendwo in ein paar Dutzend Köpfen putzmunter war und auf Pferden herumgaloppierte. Wäre Jamie mit auf dem Foto gewesen, hätte ich uns wahrscheinlich zu Drillingen erklärt, und es wäre viel schwieriger geworden, mich da wieder rauszureden.
Als wir zu der Ausgrabung zurückkehrten, waren die Reporter bereits da. Ich lieferte ihnen die üblichen
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