Grabesgrün
eine schöne Stimme, tief, aber keineswegs männlich, und sie war älter, als ich gedacht hatte. Ihr Gesicht war hager und von tiefen, feinen Linien durchzogen. Ich begriff, dass sie uns wahrscheinlich für Eltern hielt, die gekommen waren, um sich nach Ballettunterricht für ihre Tochter zu erkundigen, und einen Moment lang hätte ich am liebsten so getan als ob, nach den Kosten und Unterrichtszeiten gefragt und ihr noch ein Weilchen länger ihre Illusion und ihre Starschülerin gelassen.
»Ms Cameron?«
»Simone, bitte«, sagte sie. Sie hatte aparte Augen, fast golden, groß und mit schweren Lidern.
»Ich bin Detective Ryan, und das ist Detective Maddox«, sagte ich zum tausendsten Mal an diesem Tag. »Könnten wir Sie einen Moment sprechen?«
Sie führte uns in den Tanzraum und rückte in einer Ecke drei Stühle zurecht. Ein Spiegel bedeckte eine ganze Längswand, an der in unterschiedlichen Höhen drei Ballettstangen angebracht waren, und aus den Augenwinkeln nahm ich dauernd meine eigenen Bewegungen wahr. Ich drehte meinen Stuhl so, dass ich es nicht mehr sehen konnte.
Ich erzählte Simone von Katy – diesmal war eindeutig ich an der Reihe. Ich glaube, ich hatte erwartet, dass sie weinen würde, aber sie tat es nicht: Ihr Kopf ging ein bisschen nach hinten, und die Falten in ihrem Gesicht schienen sich noch zu vertiefen, aber das war alles.
»Katy war am Montagabend bei Ihnen im Unterricht, nicht wahr?«, sagte ich. »Wie wirkte sie da?«
Nur sehr wenige Menschen können Schweigen ertragen, doch Simone Cameron war eine Ausnahme: Sie wartete, reglos, einen Arm über die Rückenlehne ihres Stuhls gelegt, bis sie bereit war zu sprechen. Nach einer sehr langen Zeit sagte sie: »Genau wie immer. Etwas überdreht – es dauerte ein paar Minuten, bis sie ruhiger wurde und sich konzentrieren konnte –, aber das war ganz natürlich: Sie sollte in wenigen Wochen auf die Royal Ballet School. Sie hat sich wie verrückt darauf gefreut.« Sie wandte den Kopf ab, nur ein kleines bisschen. »Sie ist gestern Abend nicht zum Unterricht erschienen, aber ich hab einfach angenommen, dass sie mal wieder krank war. Wenn ich ihre Eltern angerufen hätte –«
»Gestern Abend war sie bereits tot«, sagte Cassie ruhig. »Sie hätten gar nichts tun können.«
»Mal wieder krank?«, wiederholte ich. »War sie in letzter Zeit öfter krank?«
Simone schüttelte den Kopf. »In letzter Zeit nicht mehr. Aber sie ist kein sehr kräftiges Kind.« Ihre Lider sanken kurz herab, verbargen die Augen: »War.« Dann sah sie mich wieder an. »Ich unterrichte Katy seit sechs Jahren. Über einen längeren Zeitraum, etwa seit ihrem zehnten Lebensjahr, war sie sehr häufig krank. Auch ihre Schwester Jessica, aber bei ihr handelte es sich um Erkältungen, Husten – sie ist, glaube ich, einfach recht anfällig. Katy dagegen hatte über lange Phasen Erbrechen und Durchfall. Manchmal so schlimm, dass sie ins Krankenhaus musste. Die Ärzte meinten, es sei eine Art chronische Gastritis. Eigentlich hätte sie schon letztes Jahr auf die Royal Ballet School gehen sollen, aber gegen Ende des Sommers hatte sie eine akute Attacke und sie wurde operiert, um der Sache auf den Grund zu gehen. Nach ihrer Genesung hatte das Schuljahr schon zu lange angefangen, das hätte sie nicht mehr aufholen können. Deshalb musste sie dieses Jahr im Frühling erneut vortanzen.«
»Doch in letzter Zeit waren diese Erkrankungen nicht mehr aufgetreten?«, fragte ich. Wir würden Katys Patientenakte einsehen müssen, und zwar schnell.
Simone erinnerte sich lächelnd. Es war nur kurz, aber herzzerreißend, und ihr Blick glitt von uns weg. »Ich hatte Sorge, ob sie die Ausbildung gesundheitlich durchstehen würde – Tänzer können es sich nicht leisten, krank zu sein. Als Katy in diesem Jahr wieder angenommen wurde, habe ich ihr einmal nach dem Unterricht dringend geraten, vorsichtshalber weiter zum Arzt zu gehen, zur Beobachtung. Katy hörte zu, und dann schüttelte sie den Kopf und sagte – sehr feierlich, wie ein Schwur –: ›Ich werde nicht mehr krank.‹ Ich habe versucht, ihr klarzumachen, sie könne das nicht einfach ignorieren, dass vielleicht sogar ihre Karriere davon abhing, aber sie sagte nichts weiter dazu. Und tatsächlich war sie seitdem nicht mehr krank. Ich hab gedacht, die ominöse Krankheit hätte sich vielleicht einfach ausgewachsen, aber der Wille kann einiges bewirken, und Katy hat – hatte – einen starken Willen.«
Die andere Tanzklasse hatte
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