Grabesgrün
»Und er hat langes, blondes Haar.«
Cassie und ich sahen uns an. Es war nach sechs, O’Kelly würde uns jeden Moment anrufen und einen ersten Bericht erwarten. Das notwendige Gespräch mit Mark würde wahrscheinlich eine Weile dauern, und außerdem müssten wir erst mal über irgendwelche Nebenstraßen zum Haus der Archäologen gondeln.
»Vergiss es, lass uns morgen mit ihm reden«, sagte Cassie. »Auf dem Weg ins Dezernat will ich noch bei der Ballettlehrerin vorbei. Außerdem hab ich Hunger.«
»Als hätte ich einen jungen Hund«, sagte ich zu Sophie. Helen blickte erschrocken.
»Ja, aber einen mit Stammbaum«, sagte Cassie heiter.
Als wir über das Ausgrabungsgelände zurück zum Wagen gingen (meine Schuhe waren ruiniert, genau wie Mark prophezeit hatte – rotbrauner Schlamm war tief in jede Naht gedrungen –, und es waren ziemlich schöne Schuhe gewesen, doch ich tröstete mich mit dem Gedanken, dass die Fußbekleidung des Mörders in demselben unverkennbaren Zustand sein musste), schaute ich zurück zum Wald und sah wieder dieses weiße Flackern: Sophie und Helen und der junge Techniker, die sich so leise und gezielt zwischen den Bäumen hin und her bewegten wie Gespenster.
4
DIE BALLETTSCHULE CAMERON lag über einem Videoladen in Stillorgan. Draußen auf der Straße hüpften lärmende Jungs in weiten Hosen auf ihren Skateboards unablässig auf eine niedrige Mauer und wieder herunter. Eine junge Lehrerin – eine auffallend hübsche Frau namens Louise in einem schwarzen Trikot, schwarzen Ballettschuhen und einem weiten, wadenlangen schwarzen Rock; als wir ihr die Treppe hinauf folgten, warf Cassie mir einen amüsierten Blick zu – ließ uns herein und erklärte, dass Simone Cameron in wenigen Minuten mit dem Unterricht fertig sei, also warteten wir im Vorraum.
Cassie schlenderte zu einem Schwarzen Brett an der Wand, und ich schaute mich um. Es gab zwei Tanzräume mit kleinen Rundfenstern in den Türen. In einem zeigte Louise gerade kleinen Kindern, wie sie Schmetterlinge oder Vögel oder so etwas sein konnten. In dem anderen sprangen und wirbelten junge Mädchen in Gymnastikanzügen und rosa Strumpfhosen zu den kratzigen Schallplattenklängen von »Valse des Fleurs« paarweise durch den Raum. Soweit ich das beurteilen konnte, variierten ihre Fähigkeiten beträchtlich, gelinde gesagt. Ihre Lehrerin hatte weißes, glatt zu einem Nackenknoten gebundenes Haar, aber ihr Körper war so schlank und straff wie der einer jungen Sportlerin. Sie trug das gleiche Outfit wie Louise und hielt ein Lineal in der Hand, mit dem sie den Mädchen auf Beine oder Schultern tippte und dabei Anweisungen rief.
»Sieh mal hier«, sagte Cassie leise.
Auf dem Plakat war ein Foto von Katy Devlin, obwohl ich sie nicht auf Anhieb erkannte. Sie trug ein hauchdünnes weißes Tutu und reckte mühelos ein Bein in einem eigentlich unmöglichen Winkel hinter sich in die Luft. Darunter stand in fetter Schrift: »Helfen Sie mit, dass Katy die Royal Ballet School besuchen kann!«, und dann die Ankündigung einer Benefizveranstaltung: »Gemeindesaal von St. Alban’s, 20. Juni, 19.00 Uhr. Ein Tanzabend mit den Schülern der Ballettschule Cameron. Karten 10 / 7. Von dem Erlös wird ein Teil von Katys Schulgebühren finanziert.« Ich fragte mich, was jetzt wohl mit dem Geld passieren würde.
Unter dem Plakat war ein Zeitungsausschnitt mit einem Weichzeichnerbild von Katy an der Ballettstange. Ihre Augen im Spiegel blickten den Fotografen mit einer alterslosen, aufmerksamen Ernsthaftigkeit an. »Dublins kleine Tänzerin hat es geschafft«, The Irish Times , 23. Juni: »›Bestimmt wird mir meine Familie fehlen, aber ich kann es trotzdem kaum erwarten‹, sagt Katy. ›Seit ich sechs war, wollte ich Tänzerin werden. Ich kann’s noch immer nicht fassen, dass ich es wirklich geschafft habe. Manchmal wache ich auf und denke, ich träume bloß.‹« Dieser Artikel hatte bestimmt weitere Spenden für Katys Schulgebühren eingebracht – auch das würden wir überprüfen müssen –, uns dagegen half er wahrhaftig nicht: Auch Pädophile lesen die Morgenzeitung, das Foto stach sofort ins Auge, und unser Kreis von potenziellen Verdächtigen hatte sich soeben fast auf das gesamte Land ausgedehnt.
Die Tür eines Tanzraumes öffnete sich, und eine Flut von gleich aussehenden jungen Mädchen, alle plappernd und drängelnd und kreischend, strömte an uns vorbei. »Kann ich Ihnen helfen?«, fragte Simone Cameron von der Tür aus.
Sie hatte
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