Grabesgrün
Firma – Bürowaben, Teppichboden, der sich statisch auflädt, und eintönig gestrichene Wände –, aber die Gebäude selbst stehen unter Denkmalschutz und sind gut erhalten: alte, kunstvoll gemauerte rote Backsteinwände und Marmor mit Zinnen und Türmchen und verwitterten Heiligenstatuen an Stellen, wo man sie nicht erwartet. Wenn man im Winter an nebelverhangenen Abenden über das Kopfsteinpflaster geht, kommt man sich vor wie in einem Dickens-Roman – mattgoldene Straßenlampen werfen bizarre Schatten, Kirchenglocken ertönen in der Nähe, jeder Schritt hallt in der Dunkelheit wider. Cassie sagt, man könne sich vorstellen, man wäre Inspector Abberline auf der Jagd nach Jack the Ripper. Einmal, in einer klaren Vollmondnacht im Dezember, hatte sie angefangen, mitten auf dem Haupthof Rad zu schlagen.
In O’Kellys Fenster brannte Licht, aber das übrige Gebäude lag im Dunkeln. Es war nach sieben, alle anderen hatten bereits Feierabend gemacht. Wir schlichen uns so leise wie möglich hinein. Cassie ging auf Zehenspitzen ins Büro, um Mark und die Devlins im Computer zu überprüfen, und ich stieg hinunter in den Keller, wo die alten Akten lagern. Früher war hier ein Weinkeller, und die alten Fliesen und Pfeiler und niedrigen Rundbögen sind noch erhalten. Cassie und ich haben uns fest vorgenommen, irgendwann mal abends trotz des elektrischen Lichts und ungeachtet der Sicherheitsbestimmungen mit ein paar Kerzen bewaffnet da runterzugehen und nach Geheimgängen zu suchen.
Der Pappkarton (Rowan G., Savage P. 14. 8. 84) war noch genau da, wo ich ihn zwei Jahre zuvor abgestellt hatte. Wahrscheinlich hatte ihn seitdem niemand angerührt. Ich zog die Akte heraus und schlug die Aussage auf, die die Vermisstenstelle von Jamies Mutter aufgenommen hatte, und, Gott sei Dank, da stand es: blondes Haar, braune Augen, rotes T-Shirt, abgeschnittene Jeans, weiße Turnschuhe, rote Haarspangen mit Erdbeerornament.
Ich schob die Akte unter meine Jacke, für den Fall, dass ich O’Kelly über den Weg lief (eigentlich gab es dafür keinen Grund, zumal die Verbindung zum Fall Devlin jetzt eindeutig war, aber irgendwie hatte ich ein schlechtes Gewissen, als würde ich einen verbotenen und kostbaren Gegenstand entwenden), und ging nach oben in unser Großraumbüro. Cassie saß am Computer; sie hatte das Licht ausgelassen, damit O’Kelly sie nicht bemerkte.
»Mark ist sauber«, sagte sie. »Margaret Devlin auch. Jonathan hat eine Vorstrafe, vom Februar dieses Jahres.«
»Kinderpornographie?«
»Meine Güte, Ryan. Sei nicht so melodramatisch. Nein, wegen Störung der öffentlichen Ruhe. Auf einer Demo gegen die Schnellstraße hat er eine Polizeiabsperrung missachtet. Der Richter hat ihm hundert Pfund Strafe und zwanzig Stunden gemeinnützige Arbeit aufgebrummt, die er auf vierzig erhöht hat, als Devlin meinte, seiner Meinung nach wäre er doch gerade wegen seiner gemeinnützigen Arbeit verhaftet worden.«
Das erklärte, warum er die Drohanrufe nicht bei der Polizei gemeldet hatte. Er betrachtete uns wohl kaum als Verbündete. »Die Haarspange ist in der Akte«, sagte ich.
»Gut gemacht«, sagte Cassie mit leicht fragendem Unterton in der Stimme. Sie machte den Computer aus, drehte sich um und sah mich an. »Freut dich das?«
»Ich weiß nicht«, sagte ich. Natürlich war ich froh, dass ich offenbar noch klar im Kopf war und keine Wahnvorstellungen hatte. Aber jetzt überlegte ich, ob ich mich tatsächlich daran erinnerte oder es bloß in der Akte gelesen hatte und welche der beiden Möglichkeiten mir mehr missfiel. Und ich wünschte, ich hätte die Klappe gehalten und nie etwas zu dem verdammten Ding gesagt.
Cassie wartete. Im Abendlicht, das durch die Fenster fiel, sahen ihre Augen übergroß aus, dunkel und wachsam. Ich wusste, dass sie mir die Chance bot, einfach zu sagen: »Scheiß auf die Haarspange, lass uns so tun, als hätten wir sie nie gefunden.« Selbst heute bin ich versucht, auch wenn es noch so müßig ist, mir vorzustellen, was passiert wäre, wenn ich es damals gesagt hätte.
Aber es war spät, ich hatte einen langen Tag hinter mir, ich wollte nach Hause, und mit Glacéhandschuhen angefasst zu werden – selbst von Cassie – hat mich schon immer nervös gemacht. Diese Ermittlungsrichtung außer Acht zu lassen kam mir anstrengender vor, als die Dinge einfach laufen zu lassen. »Rufst du Sophie an und fragst nach dem Blut?«, bat ich. In dem dämmrigen Raum konnte ich zumindest diese Schwäche
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