Grabesgrün
wollen, ohne dabei allzu viel Aufsehen zu erregen, brauchen wir jemanden, der Kontakte zu diesen Kreisen hat.«
O’Kelly schielte auf die Uhr, machte Anstalten, sein sorgfältig gekämmtes schütteres Haar zu glätten, bremste sich aber. Es war zwanzig vor acht. Cassie schlug die Beine übereinander, setzte sich ein wenig bequemer hin. »Ich denke, man sollte das Für und Wider abwägen«, sagte sie. »Vielleicht können wir das hier in Ruhe –«
»Ach, egal, dann eben O’Neill«, sagte O’Kelly ungeduldig. »Aber er soll bloß keinem auf die Füße treten. Ich will jeden Morgen einen Bericht auf meinem Tisch sehen.« Er stand auf und begann, Unterlagen zu ungeordneten Haufen zusammenzuschieben: Wir waren entlassen.
Wie aus dem Nichts durchfuhr mich unvermittelt eine Welle der Freude, durchdringend und intensiv, wie ich mir den jähen Rausch vorstelle, den ein Junkie erlebt, wenn das Heroin in die Vene strömt. Da war meine Partnerin, die sich auf den Händen abstützte, während sie geschmeidig vom Tisch glitt, da war die flotte, einstudierte Bewegung, mit der ich meinen Notizblock einhändig zuklappte, da war mein Superintendent, der sein Jackett überstreifte und unauffällig nach Schuppen absuchte, da war das grell beleuchtete Büro mit einem schiefen Aktenstapel in einer Ecke und der Abend, der sich gegen das Fenster lehnte. Es war einmal wieder die Erkenntnis, dass all das real war – und mein Leben. Vielleicht hätte Katy Devlin, wenn sie bis dahin gekommen wäre, dasselbe beim Blick auf die Blasen an ihren Füßen empfunden oder wenn das morgendliche Frühstücksläuten durch die Korridore schrillte. Vielleicht hätte sie, wie ich, die kleinen Einzelheiten und die Ärgernisse sogar noch mehr geliebt als die Wunder, weil sie beweisen, dass du dazugehörst.
Ich erinnere mich an diesen Augenblick, weil ich, wenn ich ehrlich bin, dergleichen so selten erlebe. Ich habe kein Geschick darin zu merken, wenn ich glücklich bin, außer in der Rückschau. Meine Begabung oder mein verhängnisvoller Fehler ist die Nostalgie. Man hat mir mitunter vorgeworfen, ich sei auf Vollkommenheit aus, würde Herzenswünsche verdrängen, sobald ich so nah komme, dass sich der magische impressionistische Schimmer in schlichte, einfache Punkte auflöst, aber die Wahrheit ist nicht ganz so simpel. Ich weiß sehr wohl, dass Vollkommenheit aus abgenutzten, abgedroschenen Banalitäten besteht. Ich vermute, meine wahre Schwäche ist eine Art von Weitsichtigkeit: Meist erkenne ich das Muster nur aus der Entfernung und viel zu spät.
5
WIR HATTEN BEIDE KEINE LUST MEHR auf ein Bier. Cassie rief Sophie auf ihrem Handy an und schwindelte ihr vor, sie könne sich aufgrund ihrer umfassenden Kenntnis alter Fälle an die Haarspange erinnern – ich hatte das Gefühl, dass Sophie ihr das nicht so ganz abkaufte, aber es war mir eigentlich egal. Dann fuhr sie nach Hause, um einen Bericht für O’Kelly zu tippen, und ich fuhr mit der alten Akte nach Hause.
Ich teile mir eine Wohnung in Monkstown mit einer unsäglichen Frau namens Heather, einer Beamtin mit Kleinmädchenstimme. Zu Anfang fand ich sie niedlich, jetzt geht sie mir nur noch auf die Nerven. Ich bin eingezogen, weil ich gern nah am Meer leben wollte, die Miete erschwinglich war und weil mir Heather gefiel (klein, zierlich, große blaue Augen, Haare bis zum Hintern) und ich mich Hollywood-Phantasien hingab von einer wunderbaren Beziehung, die zu unser beider Erstaunen erblühte. Ich bleibe aus Trägheit, und weil ich, als ich Heathers unerschöpflichen Vorrat an Neurosen entdeckte, schon angefangen hatte, für eine Eigentumswohnung zu sparen, und ihre Wohnung – auch nachdem wir beide erkannt hatten, dass Harry und Sally bei uns nicht passieren würde und sie mir die Miete erhöhte – die einzige im Großraum Dublin ist, die mir das ermöglicht.
Ich schloss die Tür auf, rief »Hi« und hechtete zu meinem Zimmer. Aber Heather war schneller: Sie erschien mit unglaublicher Geschwindigkeit an der Küchentür und fragte zittrig: »Hi Rob, wie war dein Tag?« Manchmal sehe ich sie vor meinem geistigen Auge, wie sie Stunde um Stunde in der Küche sitzt, den Saum des Tischtuchs akkurat auffältelt und nur darauf lauert, vom Stuhl hochzuschießen und mich zu krallen, sobald sie meinen Schlüssel im Schloss hört.
»Gut«, sagte ich, hielt mich körpersprachlich weiter auf Kurs zu meinem Zimmer und schloss die Tür auf (das Schloss habe ich wenige Monate nach meinem Einzug unter dem
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