Grabesgrün
Metall, und sie landete schließlich bei Sean, der sich, noch immer murrend, an die Arbeit machte.
»Wenn du zwölf wärst«, sagte Cassie, »was würde dich da mitten in der Nacht hierherlocken?«
Ich dachte an den blassgoldenen Lichtkreis, der wie ein Irrlicht zwischen durchtrennten Baumwurzeln tanzte, an die Reste von alten Mauern, den stummen Wächter im Wald. »Wir haben das ein paarmal gemacht«, sagte ich. »Die Nacht in unserem Baumhaus verbracht. Damals war hier alles Wald, bis zur Straße hin.« Schlafsäcke auf rauen Brettern, Taschenlampen dicht vor Comicheften: ein Rascheln, und die Lichtstrahlen huschen nach oben, um sich auf einem goldenen Augenpaar zu kreuzen, das wild schwankend nur wenige Bäume entfernt leuchtet; wir drei schreien auf, und Jamie springt hoch, um eine übrig gebliebene Satsuma auf das Ding abzufeuern, das durch die Blätter davonspringt –
Cassie sah über ihre Saftpackung zu mir rüber. »Ja, aber du warst mit deinen Freunden zusammen. Was hätte dich allein nach draußen gelockt?«
»Eine Verabredung. Eine Mutprobe. Vielleicht auch etwas Wichtiges, das ich hier draußen vergessen hätte. Wir werden mit ihren Freunden sprechen und rausfinden, ob sie denen irgendwas gesagt hat.«
»Das war keine Zufallstat«, sagte Cassie. Die Archäologen hatten wieder die Scissor Sisters aufgelegt, und Cassies Fuß pendelte geistesabwesend im Rhythmus mit. »Auch wenn es nicht die Eltern waren. Dieser Typ ist nicht einfach losgezogen und hat sich das erstbeste arglose Kind geschnappt, das ihm über den Weg lief. Der hat das genau geplant. Es ging ihm nicht darum, ein Kind zu töten. Es ging ihm um Katy.«
»Und er kannte die Gegend gut«, sagte ich, »wenn er den Altarstein in der Dunkelheit finden konnte, um die Leiche abzulegen. Es sieht mehr und mehr danach aus, als wäre es jemand von hier.« Der Wald lag heiter und schimmernd im Sonnenlicht, voller Vogelgezwitscher und Blätterspiel. Ich spürte die Reihen um Reihen von identischen, gepflegten, langweiligen Häusern hinter mir. Dieser verdammte Ort, hätte ich am liebsten gesagt, aber ich tat es nicht.
Nach der Mittagspause machten wir uns auf die Suche nach Tante Vera und den Cousinen. Es war ein heißer, stiller Nachmittag, aber die Siedlung wirkte unheimlich menschenleer, wie ein Geisterschiff. Sämtliche Fenster waren dicht geschlossen, und kein einziges Kind spielte im Freien. Sie waren alle drinnen, verstört und kribbelig und behütet von ihren Eltern, versuchten das Tuscheln der Erwachsenen zu belauschen und herauszufinden, was eigentlich los war.
Die Foleys waren eine unsympathische Familie. Die Fünfzehnjährige pflanzte sich in einen Sessel, verschränkte die Arme unter dem bereits üppigen Busen und bedachte uns mit einem blassen, gelangweilt hochnäsigen Blick. Die Zehnjährige sah aus wie ein Zeichentrickschwein, bearbeitete mit offenem Mund einen Kaugummi, lümmelte sich auf dem Sofa und blies in regelmäßigen Abständen gewaltige Kaugummiblasen auf. Und das Jüngste war eines von diesen beunruhigenden Kleinkindern, die aussehen wie Bonsai-Erwachsene. Es hatte ein verzogenes, pummeliges Gesicht mit einer spitzen Nase, und es starrte mich mit gekräuselten Lippen von Veras Schoß aus an, um dann das Kinn missbilligend in die Speckfalten des Halses zurückzuziehen. Ich hatte die böse Ahnung, es würde, wenn es irgendetwas von sich gäbe, mit der tiefen, schnarrenden Stimme eines Vierzigjährigen sprechen. Im Haus roch es nach Kohl. Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, weshalb Rosalind und Jessica ausgerechnet hier würden Zeit verbringen wollen, und die Tatsache, dass sie es getan hatten, gab mir zu denken.
Doch mit Ausnahme des kleinen Kindes erzählten sie alle dieselbe Geschichte. Rosalind und Jessica und manchmal auch Katy übernachteten alle paar Wochen bei ihnen (»Ich hätte sie furchtbar gern öfter hier«, sagte Vera und zupfte nervös am Zipfel eines Kissenbezugs, »aber es geht einfach nicht. Meine Nerven, wissen Sie.«), wohingegen Valerie und Sharon etwas seltener bei den Devlins schliefen. Keiner wusste, wessen Idee dieses Arrangement gewesen war, obwohl Vera vage vermutete, dass der Vorschlag ursprünglich von Margaret ausgegangen war. Am Montagabend waren Rosalind und Jessica gegen halb acht gekommen, hatten ferngesehen und mit dem Kleinen gespielt (wie, war mir ein Rätsel. Das Kind hatte sich die ganze Zeit kaum bewegt, man hätte genauso gut mit einer großen Kartoffel spielen
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