Grabesgrün
können) und waren um elf schlafen gegangen. Sie teilten sich ein Klappbett in Valerie und Sharons Zimmer.
Anscheinend hatte dann der Ärger begonnen, weil die vier nämlich noch lange geredet und gekichert hatten. »Es sind wirklich liebe Mädchen, Officers, das bestreite ich gar nicht, aber manchmal merken die jungen Leute gar nicht, wie sie uns Ältere nervlich belasten, finden Sie nicht auch?« Vera kicherte übertrieben und stupste das mittlere Kind an, das auf dem Sofa ein Stück wegrückte. »Ich musste zigmal zu ihnen rein und ihnen sagen, sie sollen still sein – ich kann keine Unruhe ertragen, wissen Sie. Es war bestimmt halb zwei Uhr morgens, man stelle sich vor, als sie endlich schliefen. Und dann war ich natürlich mit den Nerven am Ende und konnte nicht einschlafen. Ich musste aufstehen und mir eine Tasse Tee machen. Ich hab kein Auge zugetan. Am nächsten Morgen war ich wie gerädert. Und als dann Margaret anrief, haben wir uns natürlich alle furchtbare Sorgen gemacht, nicht wahr, Mädchen? Aber ich hätte nie geglaubt ... ich hab gedacht, sie wäre nur ...« Sie legte eine dünne, zittrige Hand vor den Mund.
»Kommen wir nochmal auf die Nacht zurück«, sagte Cassie zu der ältesten Tochter. »Worüber habt ihr und eure Cousinen geredet?«
Das Mädchen – Valerie, glaube ich – verdrehte die Augen und zog die Oberlippe hoch, um zu zeigen, wie blöd die Frage war. »Alles Mögliche.«
»Habt ihr auch über Katy geredet?«
»Weiß ich nicht mehr. Ja, kann sein. Rosalind hat gesagt, wie super das ist, dass sie auf diese Ballettschule gehen soll. Ich weiß nicht, was daran so toll sein soll.«
»Und habt ihr auch über eure Tante und euren Onkel gesprochen?«
»Klar. Rosalind hat erzählt, wie gemein die zu ihr sind. Nie darf sie irgendwas.«
Vera stieß einen atemlosen leisen Schrei aus. »Aber Valerie, wie kannst du so was sagen! Margaret und Jonathan würden alles für ihre Töchter tun, Officers, sie haben sich abgeschuftet –«
»Ja, klar, deshalb ist Rosalind ja auch weggelaufen, weil sie soooo lieb zu ihr sind.«
Cassie und ich wollten beide gleich nachhaken, doch Vera war schneller. »Valerie! Was hab ich dir gesagt? Darüber wird nicht gesprochen. Das war alles bloß ein Missverständnis. Es war sehr ungehörig von Rosalind, ihren Eltern solche Sorgen zu machen, aber das ist alles vergeben und vergessen ...«
Wir warteten, bis sie verstummte. »Warum ist Rosalind denn weggelaufen?«, fragte ich Valerie.
Sie zuckte mit einer Schulter. »Sie hatte die Nase voll davon, sich von ihrem Dad rumkommandieren zu lassen. Gut möglich, dass er sie geschlagen hat oder so.«
» Valerie! Also wirklich, Officers, ich weiß nicht, wo sie das herhat. Jonathan würde den Kindern niemals auch nur ein Haar krümmen, ausgeschlossen. Rosalind ist ein sensibles Mädchen. Sie hatte Streit mit ihrem Daddy, und er hat nicht gemerkt, wie aufgebracht sie war ...«
Valerie lehnte sich zurück, starrte mich an, und ein herablassendes Lächeln schlich sich in ihre aufgesetzte Langeweile. Das mittlere Kind wischte sich die Nase am Ärmel ab und begutachtete das Ergebnis mit offensichtlichem Interesse.
»Wann war das?«, fragte Cassie.
»Och, das weiß ich nicht mehr«, sage Vera. »Lange her – letztes Jahr, ich glaube im –«
»Mai«, sagte Valerie. » Diesen Mai.«
»Wie lange war sie weg?«
»Drei Tage. Die Polizei war da und alles.«
»Und wo war sie die ganze Zeit, wisst ihr das?«
»Sie ist mit’nem Typen durchgebrannt«, sagte Valerie grinsend.
»Ist sie nicht «, fauchte Vera. »Das hat sie nur gesagt, um ihre arme Mutter zu erschrecken, Gott möge ihr verzeihen. Sie hat bei einer Schulfreundin gewohnt, wie heißt die nochmal? Karen. Nach dem Wochenende ist sie zurückgekommen, und alles war wieder gut.«
»Von mir aus«, sagte Valerie mit einem erneuten einseitigen Schulterzucken.
»Tee haben«, verkündete das Kleine mit Nachdruck. Ich hatte recht gehabt: Es hatte eine Stimme wie ein Fagott.
Das war vermutlich die Erklärung dafür, warum die Vermisstenstelle gleich davon ausgegangen war, Katy wäre von zu Hause weggelaufen. Zwölf ist die Grenze, und normalerweise hätten sie wohl eher sofort mit der Suche begonnen und die Medien eingeschaltet, anstatt die vierundzwanzig Stunden abzuwarten. Aber wenn in einer Familie schon mal ein älteres Kind von zu Hause weggelaufen ist, werden die Jüngeren oft zu Nachahmungstätern. Bestimmt hatte man in der Vermisstenstelle die Adresse der
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