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Grabesgrün

Grabesgrün

Titel: Grabesgrün Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tana French
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der Erstarrung bekamen wir beide einen hilflos prustenden pubertären Lachkrampf. Sam schüttelte lächelnd den Kopf.
    »Einer verrückter als der andere«, sagte er und stand auf, um den Aschenbecher zu leeren.

    Ich hatte Sam die Wahrheit gesagt: Ich war nie auf einem College. Wundersamerweise schaffte ich ein einigermaßen gutes Abitur, mit dem ich bestimmt irgendwo hätte studieren können, aber ich bewarb mich an keiner Uni. Ich erzählte allen, ich wollte ein Jahr Pause einlegen, doch in Wahrheit wollte ich gar nichts machen, absolut nichts, und das möglichst lange, vielleicht für den Rest meines Lebens.
    Charlie ging nach London, um Wirtschaftswissenschaften zu studieren, und ich begleitete ihn einfach: Es gab nichts, wo es mich sonst hingezogen hätte. Sein Vater zahlte Charlies Anteil der Miete für eine Wohnung mit Parkettboden und Portier, und da für mich die andere Hälfte unerschwinglich war, zog ich in ein heruntergekommenes Zimmer in einer anrüchigen Gegend, und Charlie nahm einen holländischen Austauschstudenten als Mitbewohner auf, der zu Weihnachten wieder nach Hause fahren würde. Geplant war, dass ich bis dahin einen Job haben würde und zu ihm ziehen könnte, doch lange vor Weihnachten war bereits klar, dass ich nicht umziehen würde – nicht bloß wegen des Geldes, sondern weil ich ganz unerwartet mein Zimmer und das ungebundene Alleinleben schätzen und lieben gelernt hatte.
    Nach dem Internat war das Alleinsein berauschend. In der ersten Nacht lag ich stundenlang ausgestreckt auf dem widerlichen Teppich in dem matt orangegelben Licht der Stadt, das durch das Fenster fiel, roch den betörenden, würzigen Curryduft, der über den Flur wehte, hörte zu, wie sich draußen zwei Männerstimmen auf Russisch anschrien und irgendwo jemand wild und leidenschaftlich Geige übte, während sich allmählich die Erkenntnis breitmachte, dass es keinen einzigen Menschen auf der ganzen Welt gab, der mich sehen oder mich fragen konnte, was ich da machte, oder der mir irgendwelche Anweisungen geben konnte, und es kam mir so vor, als würde sich mein Zimmer jeden Moment von dem Gebäude lösen wie eine schillernde Seifenblase und in die Nacht davonschweben, sanft über Dächer und den Fluss und die Sterne hinwegschaukeln.
    Ich blieb fast zwei Jahre dort wohnen. Die meiste Zeit bezog ich Sozialhilfe. Hin und wieder, wenn das Amt anfing, Ärger zu machen, oder wenn ich Geld brauchte, um bei einem Mädchen Eindruck zu schinden, arbeitete ich ein paar Wochen bei einer Entrümpelungsfirma oder auf dem Bau. Charlie und ich hatten uns, wie nicht anders zu erwarten, auseinandergelebt, eine Entwicklung, die mit dem Ausdruck höflicher und zugleich entsetzter Faszination auf seinem Gesicht begann, als er zum ersten Mal mein Zimmer sah. Wir trafen uns alle paar Wochen auf ein Bier, und manchmal ging ich mit ihm und seinen neuen Freunden auf irgendwelche Partys (bei diesen Gelegenheiten lernte ich die meisten Mädchen kennen, so auch die grüblerische Gemma). Seine Freunde von der Uni waren ganz nett, aber sie sprachen eine Sprache, die ich weder beherrschte noch beherrschen wollte, voller Insiderwitze und Abkürzungen und gegenseitigem Schulterklopfen, und es fiel mir schwer, überhaupt hinzuhören.
    Ich weiß nicht recht, was ich in diesen zwei Jahren eigentlich gemacht habe. Vermutlich die meiste Zeit nichts. Ich weiß, das ist eines der undenkbaren Tabus unserer Gesellschaft, aber ich hatte in mir das Talent entdeckt, ohne jede Reue faul sein zu können, etwas, was die meisten Menschen nach der Kindheit verlernen. In meinem Fenster hing ein Prisma aus einem alten Kronleuchter, und ich konnte ganze Nachmittage auf dem Bett liegen und zusehen, wie es kleine Regenbogensplitter durchs Zimmer tanzen ließ.
    Ich las viel. Das habe ich schon immer getan, aber in den zwei Jahren verschlang ich Bücher mit einer wollüstigen, fast erotischen Gier. Ich ging in die Stadtbibliothek, lieh so viele aus, wie ich konnte, schloss mich dann in meinem Zimmer ein und las nonstop eine Woche lang. Ich bevorzugte alte Bücher, je älter, desto besser: Tolstoi, Poe, elisabethanische Tragödien, eine verstaubte Übersetzung von Laclos, und wenn ich schließlich blinzelnd und benommen wieder auftauchte, brauchte ich Tage, bis ich nicht mehr in ihren geschliffenen, kristallinen Rhythmen dachte.
    Außerdem sah ich viel fern. Im zweiten Jahr fand ich Geschmack an den Doku-Serien über reale Verbrechen, die meistens im Spätprogramm liefen.

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