Grabesgrün
ihr, die nur selten durchscheint, und gerade diese Seite hat mich immer fasziniert. Selbst nach all der Zeit wusste ich, dass es Bereiche in ihr gab, die ich niemals antasten durfte und in die sie mir von selbst erst recht keinen Einlass gewähren würde. Manche Fragen beantwortete sie nicht, manche Themen diskutierte sie nur theoretisch abgehoben. Und wenn man sie zwingen wollte, konkret zu werden, entglitt sie einem lachend, gewandt wie eine Eiskunstläuferin.
»Du bist gut«, sagte Sam. »Mit oder ohne Abschluss.«
Cassie hob eine Augenbraue. »Warte doch erst mal ab, ob ich richtig liege.«
»Warum hat er sie einen Tag bei sich behalten?«, fragte ich. Das hatte mich schon die ganze Zeit beschäftigt – wegen der offensichtlichen, grässlichen Möglichkeiten und wegen des nagenden Verdachts, er hätte sie noch länger, vielleicht für immer behalten, wenn er sie nicht aus irgendwelchen Gründen hätte loswerden müssen. Sie hätte ebenso spurlos und endgültig verschwinden können wie Peter und Jamie.
»Falls ich ansonsten damit richtig liege, dass er sich von dem Verbrechen distanzieren wollte, dann jedenfalls nicht, weil er sie für sich behalten wollte. Er wäre sie am liebsten so schnell wie möglich losgeworden, und er hat sie behalten, weil es nicht anders ging.«
»Er wohnt mit jemandem zusammen und musste auf eine günstige Gelegenheit warten?«
»Ja, könnte sein. Aber vielleicht hat er das Ausgrabungsgelände nicht zufällig ausgewählt. Vielleicht musste er sie dort ablegen, entweder, weil es Teil eines größeren Plans ist, den er verfolgt, oder weil er kein Auto hat und die Stelle sich anbot. Dazu würde passen, dass Mark kein Auto hat vorbeifahren sehen, und es würde bedeuten, dass der Tatort irgendwo in der Nähe sein muss, wahrscheinlich in einem der Häuser am Ende der Siedlung. Vielleicht hat er versucht, sie schon Montagnacht loszuwerden, aber da war Mark im Wald und hatte Feuer gemacht. Das könnte den Mörder abgeschreckt haben. Dann musste er Katy verstecken und es in der folgenden Nacht erneut versuchen.«
»Oder Mark selbst ist der Mörder«, sagte ich.
»Alibi für Dienstagnacht.«
»Von einer Frau, die verrückt nach ihm ist.«
»Mel ist nicht so blöd, dass sie bedingungslos zu ihm stehen würde. Sie hat was im Kopf und weiß genau, wie wichtig das hier ist. Wenn Mark mittendrin aus dem Bett gehüpft und eine Weile verschwunden wäre, dann hätte sie uns das gesagt.«
»Er könnte Komplizen haben. Mel oder jemand anderen.«
»Unwahrscheinlich.«
»Was wäre Marks Motiv?«, fragte Sam mich. Er hatte von den Kirschen gegessen und uns interessiert beobachtet.
»Sein Motiv ist, dass er nicht alle Tassen im Schrank hat«, antwortete ich. »Du hast ihn nicht erlebt. Die meiste Zeit wirkt er völlig normal. Übrigens, Cass, so normal, dass ein Kind ihm trauen würde. Aber sobald er anfängt, über die Ausgrabung zu reden, ereifert er sich und faselt von Sakrileg und Anbetung und so Zeug ... Die Schnellstraße bedeutet das Aus für die Ausgrabung. Vielleicht hat er gedacht, wenn er den Göttern ein kleines Menschenopfer bringt wie in der guten alten Zeit, dann greifen die ein und verhindern den Bau. Wenn es um die Ausgrabung geht, ist er irre .«
»Wenn sich rausstellt, dass das tatsächlich ein heidnisches Menschenopfer war«, sagte Sam, »will ich nicht derjenige sein, der es O'Kelly beibringt.«
»Ich bin dafür, er soll es O'Kelly selbst erzählen. Und wir kassieren Eintritt.«
»Mark ist nicht irre«, sagte Cassie mit Nachdruck.
»Oh doch, ist er.«
»Ist er nicht . Seine Arbeit ist der Mittelpunkt seines Lebens. Das ist nicht irre.«
»Du hättest die beiden sehen sollen«, sagte ich zu Sam. »Ehrlich, das war eher ein Date als eine Vernehmung. Maddox nickt und nickt, klimpert mit den Wimpern, erzählt ihm, dass sie ganz genau versteht, wie er sich fühlt –«
»Was übrigens stimmt«, sagte Cassie. Sie hatte Coopers Bericht zugeklappt und sich auf den Futon gehievt. »Und ich habe nicht mit den Wimpern geklimpert. Wenn ich das tue, merkst du das schon.«
»Du verstehst genau, wie er sich fühlt? Was denn, betest du alte Götter an?«
»Nein, du Idiot. Halt die Klappe und hör zu. Ich habe eine Theorie zu Mark.« Sie streifte ihre Schuhe ab und zog die Füße auf den Futon.
»Oh Gott«, sagte ich. »Sam, ich hoffe, du hast heute nichts mehr vor.«
»Für eine gute Theorie hab ich immer Zeit«, sagte Sam. »Gibt’s dazu einen Drink, falls wir mit der Arbeit
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